Politisierende Pfarrer

Religion und Politik haben bei aller Verschiedenheit viele Berührungsflächen, da beide am Gemeinwohl interessiert sind. Daher gab und gibt es immer wieder Geistliche in politischen Ämtern.

von Victor Conzemius

Kirchen sollen sich aus der Politik heraushalten, Pfarrer dürfen keine Politik machen: So behaupten manche im Brustton der Überzeugung. Der Meinung liegt die Besorgnis zugrunde, die kirchliche Verkündigung könne Schaden nehmen, wenn ein Pfarrer mit dem Gewicht seines Amtes parteipolitische Positionen vertritt, die ihn mit Teilen seiner Gemeinde in Konflikt bringen. Die Besorgnis ist berechtigt, übersieht jedoch, dass die Kirche um des Evangeliums und der Menschen willen manchmal Position beziehen muss, auch wenn dies Zwistigkeiten nach sich zieht.
Die katholische Kirche hat mit politisierenden Geistlichen unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Ihre Zurückhaltung gegenüber dem politischen Engagement von Bischöfen und Priestern geht keineswegs auf eine grundsätzliche Ablehnung zurück. Doch im Laufe ihrer zweitausendjährigen Geschichte geriet sie mit nicht wenigen ihrer Vertreter auf eine Bahn, die sie weitab vom Evangelium in den politischen Eigennutz trieb. Sie wurde zu einer weltlichen Macht, die das Evangelium manipulierte. So beurteilen manche die Zeit vor 1789, die man als Ancien Régime bezeichnet.

Personalmangel bei den Laien

Auch nach der Französischen Revolution übernahmen kirchliche Amtsträger immer wieder politische Ämter. Zwar gab es eine wachsende Schicht von Laien, die sich im parlamentarischen Leben für die Belange der Bürger einsetzten. Aber vielerorts fehlten Leute, die sich für diese Aufgaben eigneten. So griff man gerne auf Pfarrer zurück, die aufgrund ihrer Bildung und rhetorischen Begabung fähig waren, öffentliche Anliegen wie soziale Gerechtigkeit und Schulbildung für alle zu vertreten. Es waren vor allem Vertreter des niederen Klerus, die in die Bresche sprangen.

Die Gründung von politischen Parteien in der Epoche des sogenannten politischen Katholizismus im 19./20. Jahrhundert gab Abgeordneten im Priesterkleid eine neue Chance. In Frankreich waren es die Abbés démocrates, die sich für Arbeiter, Bauern und Kleinbetriebe einsetzten und zur Verbesserung der sozialen Gesetzgebung beitrugen. Während es in Frankreich zu keiner Bildung einer politischen Partei unter konfessionellem Vorzeichen kam, gewann in Deutschland die Zentrumspartei – Vorläuferin der Christdemokraten – als politische Kraft eine wachsende Bedeutung.

Zeit der politischen Prälaten

Die hohe Zeit der Priester in der Politik war die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Im Typ des politischen Prälaten begegnen sie einem in zahlreichen europäischen Ländern, in denen christliche Parteien Fuss gefasst hatten: Deutschland, Belgien, Luxemburg, Holland, Österreich, Tschechoslowakei, Ungarn und einzelne Länder des Baltikums. Einige Persönlichkeiten sind bis heute unvergessen. Der Kölner Priester Heinrich Brauns (1868–1939) war in dreizehn Kabinetten der Weimarer Republik Reichsarbeitsminister und hat die fortschrittliche Sozialgesetzgebung der Republik mitgeprägt.

Prälat Ignaz Seipel (1876–1932) war wiederholt österreichischer Bundeskanzler und gilt wegen seines Sachverstandes in Finanz- und Wirtschaftsfragen als bedeutendster österreichischer Staatsmann der Zwischenkriegszeit. Aber gerade bei ihm zeigt sich, wie schnell der politische Einsatz eines Priesters negative Schlagzeilen machen kann. Als 1927 das Militär in Wien auf sozialistische Arbeiter schoss und ein Blutbad anrichtete, hing man dem geistlichen Bundeskanzler das Etikett des «blutigen Prälaten» und des «Prälaten ohne Milde» an. Das führte zu einer Austrittswelle aus der katholischen Kirche, die nur noch von den Austritten zur Zeit des Nationalsozialismus übertroffen wurde.
In der Tschechoslowakei standen sich zwei Priester in führenden politischen Positionen gegenüber: Prälat Jan Šrámek war ab 1940 Ministerpräsident der tschechischen Exilregierung in London, während der Slowake Jozef Tiso Staatspräsident der Slowakei von Hitlers Gnaden wurde. Wegen seiner Zusammenarbeit mit den Deutschen wurde Tiso auf Betreiben der Russen 1947 in Bratislava gehängt.

Ein kurioses Stehaufmännchen in der kommunistischen Tschechoslowakei war der exkommunizierte Priester Josef Plojhar, der durch alle kommunistischen Regierungen hindurch – bis zum Zusammenbruch des Systems – Gesundheitsminister blieb.
Vor allem diese Erfahrungen trugen dazu bei, dass sich Vatikan und Bischofskonferenzen nach dem Zweiten Weltkrieg sich zurückhaltend zum parteipolitischen Engagement von Priestern verhielten. In Deutschland gab es seitdem keine katholischen Pfarrer mehr im Bundestag, nur in Länderparlamenten waren sie zeitweilig noch vertreten.

Protestantische Theologenpolitiker

Politische Prälaten gab es auch in anderen christlichen Konfessionen. In der griechischen Orthodoxie war Erzbischof Makarios III. von Zypern die bekannteste Gestalt. Als Symbolfigur des Aufstandes gegen die Briten wurde er 1960 Staatspräsident.
Im deutschen Protestantismus waren in der jüngeren Gegenwart Pfarrer und Theologen in allen Parteien vertreten, wenn auch mit einer Neigung zur Sozialdemokratie. In der Öffentlichkeit traten vor allem die Kirchenjuristen hervor: Bundespräsident Gustav Heinemann, Eugen Gerstenmaier, langjähriger Präsident des Bundestages, und in jüngster Zeit der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe. Der 2006 verstorbene Bundespräsident Johannes Rau, von Freunden und Kritikern Bruder Johannes genannt, hatte zwar keine Theologie studiert, sich jedoch in seinen jüngeren Jahren als Evangelist betätigt.

Umstrittene und gefährliche Einsätze

Das Problem von Priestern in der Politik stellte sich nach dem Zweiten Weltkrieg vermehrt auf anderen Kontinenten. In der Republik Kongo stieg Abbé Fulbert Youlou zum Staatspräsidenten auf. In Haiti war der charismatische Salesianerpater Jean-Bertrand Aristide ein Hoffnungsträger par excellence. Allerdings enttäuschte er in zwei Amtsperioden als Staatspräsident viele Hoffnungen.
In einen in der Öffentlichkeit stark beachteten Konflikt gerieten 1984 in Nicaragua drei Priester, die unter den Sandinisten Ministerämter übernommen hatten, darunter der Kulturminister und Dichter Ernesto Cardenal. Sie wurden vom Vatikan vor die Alternative gestellt, ihr geistliches oder ihr politisches Amt abzulegen.

Manchmal sind Entscheidungen schwierig und haben ungewollte Konsequenzen. So wurde der aus dem Wallis stammende und in Ruanda tätige Erzbischof André Perraudin (1914–2003) – er war in seinem ersten Hirtenbrief von 1958 für einen friedlichen Abbau der ungerechten Feudalverhältnisse eingetreten – später für den blutigen Bürgerkrieg zwischen Hutus und Tutsis und dessen grauenhafte Folgen mitverantwortlich gemacht. In Simbabwe profilierte sich in jüngster Zeit der katholische Erzbischof von Bulawayo, Pius Ncube, als eine der wenigen Persönlichkeiten, die dem Staatspräsidenten Robert Mugabe, der das Land mehr und mehr in den Abgrund treibt, entgegentraten. Ncube musste dafür eine masslose Verleumdungskampagne über sich ergehen lassen und deswegen diesen Sommer den Rücktritt einreichen.

Verbot in der Schweiz

Nach dem Zusammenbruch der Alten Eidgenossenschaft fiel dem Berner Theologen Philipp Albert Stapfer (1766–1840) eine wichtige Rolle in der Organisation des Unterrichtswesens zu. Seit der Gründung des Bundesstaats von 1848 waren bisher etwa dreissig reformierte Pfarrer als Parlamentarier aktiv. Formal waren sie gehalten, das Pfarramt aufzugeben. Bei Theologieprofessoren wie beim Basler Heinrich Ott sowie beim 1991 in den Nationalrat gewählten Zürcher Ernst Sieber gab es keine Probleme, da sie keine Gemeindepfarrer waren. Ein reformierter Pfarrer wurde sogar Bundesrat: Karl Schenk aus dem bernischen Schüpfen. Er hält den Rekord als der am längsten amtierende Bundesrat (1863–1895). Von ihm berichtet Hermann Böschenstein, einer seiner Nachkommen, dass er zeitlebens Probleme hatte, mit seinen sieben Kindern finanziell durchzukommen.

Katholischen Klerikern begegnet man in der Schweiz in Kantons- und Gemeindeparlamenten, jedoch nicht im Bundeshaus. Die Verfassung von 1848 schloss die katholischen Pfarrer grundsätzlich von der Wählbarkeit in den Nationalrat aus (Begründung siehe Kasten). 1992 reichte Pfarrer Sieber eine Motion ein, die eine Verfassungsänderung ermöglichen sollte. Die Einschränkung der Wählbarkeit von Geistlichen wurde mit der neuen Bundesverfassung 1999 aufgehoben.

So wurde 1848 argumentiert
Das Protokoll der Bundesversammlung von 1848 führt unter anderem die folgende Argumentation gegen die Wählbarkeit von Geistlichen an:
«Die im Artikel enthaltene Beschränkung ist zunächst gegen den katholischen Klerus gerichtet, und notwendig, weil derselbe nach den kanonischen Bestimmungen fortwährend gegenüber den andern Staatsbürgern eine besondere Stellung einnimmt. Jeder Pfarrer in der kleinsten Gemeinde behauptet, gleich dem Papste, den Dualismus zwischen den Geistlichen und Weltlichen, und geht von dem Grundsatze aus, dass, wie der Geist über die Materie erhaben sei, so auch die Kirche über den Staat dominieren müsse.
In Folge seiner eigentümlichen Stellung hat der Geistliche unzählige Mittel, auf das Volk einzuwirken und durch moralische Bestechung die Wahl auf sich zu lenken. Noch neuerlich ist die Verweigerung der Absolution zu diesem Zwecke mit Erfolg angewendet worden. Wenn alle Bürger diese Vorteile genössen, wenn dem Laien dieselben Auskunftsmittel wie dem Klerus zu Gebote stünden. so könnte die beantragte absolute Gleichheit zulässig sein. Weil nun aber faktisch bereits eine Ungleichheit besteht, indem der Laie in der Kirche auf keine Weise mitzusprechen hat, muss in bürgerlicher Hinsicht ein Unterschied als völlig zulässig erscheinen.
Der geistliche Stand ist mit den übrigen Ständen nicht vollkommen verwachsen; er ist wesentlich an Rom gebunden, und der alte, nie aufgegebene Anspruch auf eigene Jurisdiktion und Immunität wird nur zu bald wieder mit Macht auftauchen, wenn dem Klerus der Zutritt in die oberste Bundesbehörde offen steht und ihm dadurch die Möglichkeit gegeben wird, seinen Ansprüchen Geltung zu verschaffen.
Übrigens liegt der Ausschluss der Geistlichkeit im Interesse dieses Standes selbst; denn wo die Geistlichen noch in die weltlichen Behörden gewählt werden, haben sich in den Gemeinden nur Parteiungen erzeugt, welche nachteilig auf das kirchliche Leben einwirken. Wenn der Geistliche seinen Beruf erfasst – wenn er seine Funktionen so besorgen will, wie die Pflicht es gebietet, so hat er in der Gemeinde genug zu tun, und es erübrigt ihm keine Zeit, sich in die politischen Verhandlungen zu mischen. Der Geistliche darf nicht Parteimann werden, sondern vielmehr hat er die Aufgabe, gleichmässig der Ratgeber aller seiner Pfarrangehörigen zu sein.
Auch die protestantische Geistlichkeit hat sich von hierarchischen Tendenzen noch nicht völlig frei machen können, sondern bis in die neuere Zeit Strebungen kund gegeben, welche mit der allgemeinen Volksfreiheit im Widerspruch stehen.»

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