Sabine Zgraggen, Leiterin der Dienststelle Spital- und Klinikseelsorge, Zürich
Schweiz

Wo waren die Frauen? Oberammergau muss 2030 weiblicher werden

Die Zürcher Theologin Sabine Zgraggen (53) hat die letzte Vorstellung der Passionsspiele in Oberammergau besucht. Ihr Fazit: eine spannende religiöse Erfahrung. Für die nächste Aufführung 2030 wünscht sie sich aber Frauen als Hauptrollen. Ein Gastbeitrag.

Sabine Zgraggen*

Am Ende gab es 15 Minuten Standing Ovations und eine nicht enden wollende Laudatio an alle Mitwirkenden durch Spielleiter Christian Stöckl. Man spürte den Zusammenhalt der über 1000 Mitspielenden aus Oberammergau.

«Das Publikum ist heute ein anderes als vor 22 und auch vor zwölf Jahren.»

Vorwort im Textbuch

Die rund 4500 Zuschauerinnen und Zuschauer in der ausverkauften Halle bedankten sich gerne und jubelten frenetisch den Mitwirkenden zu.

Szene aus der Oberammergau-Aufführung.
Szene aus der Oberammergau-Aufführung.

Was genau sprach die inszenierte biblische Botschaft in unsere heutige Zeit hinein? Im Vorwort des Textbuches steht dazu: «Das Publikum ist heute ein anderes als vor 22 und auch vor zwölf Jahren.» Die Fragestellungen hätten sich verschoben. Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi sollten die Menschen erbaulich und bestärkend vermittelt bekommen. Deswegen sollten «die Ängste und Hoffnungen der heutigen Menschen» aufgegriffen werden.

Mühe, Jesus zu erkennen

Bei den in Beige- und Pastelltönen gehaltenen und mit kühlem Licht angestrahlten Gewändern hatte ich als Zuschauerin zunächst einmal Mühe, Jesus überhaupt zu erkennen. Später fiel er stärker auf, da er energisch rief, ja schrie, um seine Botschaft deutlich zu machen.

Lebe ich eigentlich? Plakat in Oberammergau.
Lebe ich eigentlich? Plakat in Oberammergau.

Souverän und mit innerer Ruhe handelnd – das klänge in meinen Ohren anders. Jesus hastete hier nervös von links nach rechts und wieder retour, als wüsste er selbst nicht so recht weiter.

Einen grossen Raum nahm die Auseinandersetzung ein, wer Jesus denn nun wirklich war. Sowohl die Jünger wie auch die Priester stritten darüber. Das erschien glaubwürdig, auch wenn wir heute so tun, als wäre alles klar.

«Doch nur die Wahrheit»

Es ging hin- und her, überall gab es Sympathisanten, Überzeugte oder Mitläufer. Nikodemus und Joseph von Arimathäa legten überraschend starke Glaubenszeugnisse im Hohen Rat für Jesus ein. Er sei unschuldig und sage «doch nur die Wahrheit».

Ein Dorf inszeniert sich selbst: Die 42. Passionsspiele in Oberammergau.
Ein Dorf inszeniert sich selbst: Die 42. Passionsspiele in Oberammergau.

Gleichzeitig hatten auch Jesu Jünger einige Fragen. Erwartungen und Enttäuschungen wechselten sich ab. Besonders herzzerreissend wurde Judas dargestellt, der ja eigentlich nur helfen wollte und darauf hoffte, dass Jesus in der Gefangenschaft seine Macht offenbaren würde. Doch daraus wurde ja bekanntlich nichts, und so blieb ihm nur der Strick.

Wo waren eigentlich die Frauen?

Alles nahm schliesslich seinen Lauf und der Weg nach Golgotha war dann eher kurz. Drei Mal fiel Jesus innerhalb von zwei Metern hin. Doch, Moment einmal. Fehlte da nicht etwas? Wo waren eigentlich die Frauen? Bilde ich es mir ein, oder gingen sie im pastellfarbenen Softie-Look einfach unter?

Jesus-Werbung in Oberammergau
Jesus-Werbung in Oberammergau

Es mag ja sein, dass sie weder früher noch heute viel zu melden haben. Aber hätte hier nicht etwas mehr «Farbe» drin gelegen? Da soll die Fremdgängerin gesteinigt werden: «Wer wirft den ersten Stein?», fragt Jesus etwas leidenschaftslos – und schon rennen alle weg. Seit wann geht männliche Erkenntnis so schnell?

«Warum durchdringen meine Gebete nicht die Wolken?»

Maria

Von Maria geht mir der Satz «Warum durchdringen meine Gebete nicht die Wolken?» ins Herz. Eine wirklich gute Frage. Das fragen sich seit Monaten sicherlich Millionen Menschen bezüglich des Ukraine-Krieges. Mehr blieb mir leider nicht hängen.

Farblose Männer in einer Masse von Volk

Und Maria Magdalena? Ja, sie sucht ihren Rabuni, aber nur ganz kurz. Nach den realen sechs Stunden Sitzfleisch schmilzt der Gesamteindruck der Frauen hier auf gefühlte drei Minuten zusammen.  Die anderen fünf Stunden und 57 Minuten regiert der Club der – ebenfalls – farblosen Männer in einer Masse von Volk. Sie rufen stimmgewaltig «Hosianna», oder, die Fans vom Hohen Rat und der rechten Ordnung: «Er soll sterben».

"Jesu Kreuzigung und Tod" bei der kostümierten Fotoprobe. Nun sind die Spiele zu Ende.
"Jesu Kreuzigung und Tod" bei der kostümierten Fotoprobe. Nun sind die Spiele zu Ende.

Das ist laut, das ist gut. Das geht ins Mark. Für einen Moment kann ich mir den Tumult von damals vorstellen. Da war ja echt was los. Doch wo sind nun die Fragen von heute? Wer von uns würde für Jesus noch auf die Strasse gehen?

Juden und Christen geben sich die Klinke in die Hand

Und jetzt zu unseren jüdischen Freundinnen und Freunden. In den letzten Monaten wurde teilweise kontrovers über die einvernehmende Art und Weise des Judentums in dieser Passions-Interpretation diskutiert. Wie nahe waren sich Juden- und Christentum damals, wo stehen wir heute? Der Regisseur findet seine Antwort: Damals war vieles nicht klar und durchmischt. Judenchristen, Juden und erste Christen gaben sich die Klinke in die Hand.

Gespiegelt: Oberammergauer Pietà.
Gespiegelt: Oberammergauer Pietà.

Und heute? Vielleicht dann doch ein wenig zu gewagt, das «Schma Israel» anstelle der Einsetzungsworte zum Brotbrechen beim letzten Abendmahl zu singen? Und auch noch als Bonus-Track, bei der Laudatio, zum Schluss: Weil’s eben so schön ist. Wenn ich mir für einen kurzen Moment vorstelle, wie ich das als Jüdin finden würde, dann hätte ich wohl eher keinen Ton herausgebracht. Als Christin übrigens auch nicht.

Zwei Jünglinge am Feuer

Sei’s drum: In Pastell ging die Hoffnung auf der Bühne am Kreuz dann doch endlich unter und erstand in zwei Jünglingen am Feuer in den letzten Minuten angedeutet auf. Maria Magdalena rief noch schnell Halleluja. Das mag ich ihr und uns allen gönnen. Damit aus unser aller Seelen in Zukunft das Halleluja wieder kräftiger herausbricht, muss – glaube ich – dann doch noch etwas mehr geschehen. In unserem Leben, aber wohl auch auf der Bühne. 2030 werden wir sehen, wie es weiter gegangen ist.

Die Theologin Sabine Zgraggen (53) leitet in Zürich die Spital- und Klinikseelsorge.


Sabine Zgraggen, Leiterin der Dienststelle Spital- und Klinikseelsorge, Zürich | © zVg
3. Oktober 2022 | 15:17
Lesezeit: ca. 4 Min.
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