Maram Stern, Leiter des Brüsseler Büros und Vizegeneralsekretär des Jüdischen Weltkongresses
International

WJC-Vizegeneralsekretär Maram Stern: «Netanjahu redet Quatsch mit Sosse»

Brüssel, 16.2.15 (kath.ch) Paris und Kopenhagen – die Anschläge gegen jüdische Einrichtungen schüren bei europäischen Juden Angst vor wachsendem Antisemitismus. Maram Stern (59) ist Leiter des Brüsseler Büros und Vizegeneralsekretär des Jüdischen Weltkongresses (WJC), des Dachverbands jüdischer Gemeinden und Organisationen in 100 Ländern. Stern wuchs in Berlin auf und ist unter anderem zuständig für den interreligiösen Dialog. Im Exklusiv-Interview mit unserem Partner Katholische Nachrichten-Agentur (kna) fordert er ein Aufbegehren der Zivilgesellschaft und ärgert er sich über den Aufruf des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu an Europas Juden, jetzt nach Israel auszuwandern.

Inga Kilian

Herr Stern, die Anschläge von Paris und Kopenhagen, die Schändung eines jüdischen Friedhofs in Frankreich – sind das Einzelfälle, oder sehen Sie verstärkt antisemitische Tendenzen?

Maram Stern: Hier kommt etwas ans Tageslicht, das schon lange köchelt. Das ist eine Entwicklung, die seit Jahren in der Luft liegt und nun offenbar wird. Dafür gibt es keinen konkreten Anlass, es ist einfach in den vergangenen Monaten wieder salonfähig geworden, zu sagen, was man über Juden denkt – und das ist häufig negativ. Das ist auch in Deutschland nicht weit weg. Heute demonstriert Pegida gegen den Islam, morgen kann es das Judentum sein.

Die Täter von Paris und auch der mutmaßliche Schütze von Kopenhagen waren Muslime. Wie beurteilen Sie die Rolle des Islam in der aktuellen Entwicklung?

Stern: Die Stimmung, die im Moment in der Luft liegt, hat nichts mit dem Islam zu tun. Es gibt vielmehr eine allgemeine Frustration, einen Rechtsruck. Diese Entwicklung mit einer möglichen Islamisierung zu erklären, wäre zu einfach.

Wie reagieren Juden in Europa? Verzeichnen Sie verstärkte Auswanderungsbewegungen?

Stern: Bis vor kurzem war das Thema Auswanderung überhaupt kein Thema. Jetzt ist es bei Juden in Europa auf die Agenda gekommen. Ich sehe das ganz persönlich bei mir und meiner Familie. Ich komme aus Berlin und habe auch mit dem Gedanken gespielt, wieder dorthin zurückzugehen. Deutschland ist meine Heimat und meine Kultur. Aber jetzt frage ich mich: Kann ich dort noch leben? Es wird ganz konkret darüber gesprochen – können wir bleiben oder sollten wir gehen? Diese Frage ist nur schwer zu beantworten.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat Europas Juden aufgerufen, nach Israel auszuwandern.

Stern: Das ist Quatsch mit Sosse. Das kann doch nicht die Lösung sein. Was würde dann passieren? Ein judenfreies Europa? Nein, dazu wird und darf es nicht kommen.

Hat sich in den vergangenen Wochen im Alltag europäischer Juden etwas verändert?

Stern: Die ganze Atmosphäre verändert sich – man fühlt sich im Alltag unwohl. Mein 17-jähriger Neffe fragt sich, ob er zu jüdisch aussieht; wie er sich kleidet, wenn er das Haus verlässt. Es ist wie ein Puzzle. Die Anschläge sind schockierend, aber sie sind nur Puzzleteile – und wenn man alle Teile zusammenlegt, ergibt sich ein sehr hässliches Bild. Was uns vor allem erschreckt, sind nicht nur die Anschläge an sich, sondern die Reaktionen darauf. Wenn wir uns anschauen, was jetzt in Kopenhagen passiert ist: Die Menschen haken das einfach unter ‘und noch ein Anschlag’ ab. Das tut weh.

Welche Forderungen haben Sie an Politik und Gesellschaft?

Stern: Die Politiker verhalten sich angemessen, Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich eindeutig positioniert. Es ist eher die Zivilgesellschaft, die sich verändern muss. Hier spüre ich eine Müdigkeit; es gibt kein Aufstehen, kein Aufbäumen. Irgendetwas muss sich ändern. Leider habe ich keine Lösung. Alle Maßnahmen, die man ergreifen kann, wirken nur langfristig. Aber kurzfristig? Ich wünschte, ich hätte eine Lösung. (kna)

Maram Stern, Leiter des Brüsseler Büros und Vizegeneralsekretär des Jüdischen Weltkongresses | © KNA Sasson Tiram
16. Februar 2015 | 17:11
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