«Wir verwenden heute eine andere Sprache für den Holocaust»

Luzern, 9.11.18 (kath.ch) Der Holocaust war in der Familie von Daniel Hoffmann* ein selbstverständliches, aber auch sehr intimes Thema. Als Gastprofessor in Luzern beschäftigt er sich damit, wie 80 Jahre nach dem Beginn der Verfolgung der Juden in Deutschland über den Holocaust gesprochen werden kann.

Martin Spilker

Sie gehen in Luzern im Rahmen eines Seminars der Frage nach, ob der Holocaust neue ethische Werte zu begründen vermag. Vermag er das?

Daniel Hoffmann: Ja, das vermag er. Es ist eine Frage, die ich beim jüdischen Schriftsteller Imre Kertesz gefunden habe und die mich auch immer bewegt hat. Ich bin Sohn eines Holocaust-Überlebenden, eines deutschen Juden. Mein Vater hat in meiner Kindheit viel vom Holocaust erzählt. Das war etwas Selbstverständliches, aber es blieb immer innerhalb des Familiären.

Erst viel später habe ich mir überlegt, ob man dazu auch moralische Fragen stellen kann. Zu einer fertigen Lösung bin ich noch nicht gekommen. Das wollte ich in der Schweiz, wo ganz anders als in Deutschland der Holocaust keinen so grossen Platz einnimmt, zur Diskussion stellen.

Ihre Familiengeschichte hat Ihre Haltung zum Holocaust geprägt. Kann die Vermittlung eines solchen Geschehens ohne direkten Bezug überhaupt erfolgen?

Hoffmann: Doch, das ist durchaus möglich. Es geht um die Sensibilität, die wir gegenüber Texten von Holocaust-Überlebenden einnehmen. Es geht um das, was wir empfinden. Dabei steht nicht im Zentrum zu erfahren, was den Opfern widerfahren ist, sondern wie sie es beurteilen.

«Es geht um die Sensibilität, die wir einnehmen.»

Allerdings verändert sich dieses Empfinden auch. Die heutige Generation junger Leute ist schliesslich mehr als zwei Generationen vom Holocaust entfernt.

Gehen wir aus der Distanz unbedarfter an Schilderungen über den Holocaust heran?

Hoffmann: Ich würde sagen, es ist vor allem eine andere Sprache, die wir heute verwenden. Früher war das Reden über den Holocaust mehr moralisch geprägt. Deswegen zu sagen, es sei heute unbedarfter, wäre falsch. Aber wir können heute nicht mehr die gleichen Redewendungen verwenden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Hoffmann: Etwa wenn vom Holocaust als dem «Unbegreiflichen» gesprochen wird. Unbegreiflich war der Holocaust nicht. Es war ein von Menschen begangenes und von Menschen erlittenes Ereignis, das beschreibbar ist. Doch stellt sich die Frage, ob man das Vokabular für die Beschreibung hat und findet.

«Heute ist diese Sprache oft hilflos oder salopp.»

Haben wir die Wörter dafür?

Hoffmann: Nach dem zweiten Weltkrieg gab es Vorschläge, die deutsche Sprache neu zu bedenken und darin neu zu sprechen. Dies um nicht die ganze Last des «Dritten Reiches» und der Vergewaltigungen, die dort mit der Sprache gemacht wurden, weitertransportieren zu müssen. Das ist nicht geschehen. Heute ist diese Sprache allerdings oft hilflos oder salopp.

Lassen sich katastophale Ereignisse wie Bürgerkriege oder Massenflucht mit dem Holocaust vergleichen?

Hoffmann: Ich würde zuerst festhalten, dass der Holocaust ein weiter zurückliegendes Ereignis ist. Für mich ist die Auseinandersetzung damit etwas völlig Selbstverständliches. Aber gleichzeitig ist mir, als ich zu einem Workshop über die Pogromnacht vom 9. November eingeladen wurde, aufgefallen: Dieses Datum ist schon 80 Jahre her.

«Die Schoa ist vom Ansatz her nicht vergleichbar.»

Deswegen lässt sich der Holocaust heute nur schwer mit aktuellen Ereignissen in Verbindung bringen. Diese haben ihre eigene «Qualität» und auch ihr eigenes Leid. Auch sollte das Leid, das Juden damals erlitten haben, nicht verglichen werden mit heutigem Leid. – Es ist immer eine sehr individuelle Wahrnehmung, doch die Schoa ist vom Ansatz her nicht vergleichbar.

Sie machen eine deutliche Zäsur, wenn Sie von «nicht vergleichbar» sprechen.

Hoffmann: Ja. Von den Tötungsmethoden her und der Einstellung gegenüber den Opfern ist der Holocaust nicht vergleichbar mit anderen Ereignissen. Es gibt vielleicht einen vergleichbaren Ansatz, dort wo Volksgruppen zu Untermenschen stilisiert und getötet werden, wie die muslimischen Einwohner in Myanmar.

Dann gibt es aus den durch den Holocaust gewonnenen Erkenntnissen doch keine Ethik, die sich heute einfordern liesse?

Hoffmann: Das ist eine schwierige Frage, die sich nicht einfach so beantworten lässt. Zumal es keine universell vereinbarte Ethik gibt, die sich überall anwenden liesse. Es gibt immer noch zu viele geistige Grenzen zwischen den Völkern.

Auch wenn die Weltgesellschaft so viel näher zusammengerückt ist?

Hoffmann: In intellektuellen Kreisen gibt es sicher die Entwürfe einer universalen Ethik. Aber die Anwendbarkeit auf die realen Verhältnisse ist beinahe unmöglich. Das zeigt die Wahl des neuen Präsidenten in Brasilien, der in die Freiheit anderer Menschen eingreift. Gäbe es eine weltweite Ethik, würde die Gesellschaft gegen solche Politiker einschreiten.

Wie betreffen Sie solche Ereignisse persönlich?

Hoffmann: Das betrifft mich stark, ja. Nur ist bei mir die Sensibilität gewachsen, seit ich das Buch über meinen Vater geschrieben habe. Er hat nach aussen eine Wand aufgezogen gegenüber allem, was ihn emotional hätte betreffen können. Das war sein Schutzmechanismus bereits in der Lagerzeit.

«Mich beschäftigt jedes Unrecht gegenüber Menschen sehr.»

Diese Haltung hat er stark uns Kindern weitergegeben. Aber seit diesem Buch berührt und beschäftigt mich jedes Unrecht gegenüber Menschen sehr.

Sie unterrichten ein Semester lang am Institut für jüdisch-christliche Forschung. Wie sehen Sie zurzeit das Verhältnis zwischen römisch-katholischer Kirche und dem Judentum? 

Hoffmann: Hier kann ich nur aus persönlicher Erfahrung sprechen. Die ist sehr positiv. Ich wohne in Luzern für die Dauer meiner Tätigkeit im Priesterseminar zusammen mit jungen Männern, die das Priesteramt in der katholischen Kirche anstreben. Wir haben ein ganz entspanntes Zusammenleben. Wenn am Tisch das Gebet gesprochen wird, bin ich dabei. Es ist ein schönes Miteinander.

Stellen Sie generell eine Annäherung zwischen Judentum und Christentum fest?

Hoffmann: Ich habe mein Judentum immer als eigenständige Religion gelebt und nie mit Blick auf das Christentum. Einige wenige Male habe ich festgestellt, dass es von christlicher Seite her schwierig anzuerkennen ist, dass das Judentum als eigenständige Religion und nicht mit dem Blick auf das Christentum existiert. Ich kann das durchaus auch nachvollziehen.

«Nein, Jesus spielt keine Rolle für uns.»

Inwiefern?

Hoffmann: Das Christentum besteht durch die Auseinandersetzung mit dem Judentum. Umgekehrt steht das Judentum alleine da, ohne diese zeitlichen Bezüge haben zu müssen. Ich werde auch oft gefragt, ob denn Jesus für uns Juden keine Rolle spielt. Nein, Jesus spielt keine Rolle für uns. In Ritualen nicht und auch nicht im Kultus. – Bei solchen Fragen wird es weiterhin zu Diskussionen kommen.

* Daniel Hoffmann ist Schriftsteller und Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Düsseldorf. Sein Forschungsschwerpunkt ist die deutsch-jüdische Literatur. 2007 hat er das Buch «Lebensspuren meines Vaters. Eine Rekonstruktion aus dem Holocaust» veröffentlicht. Hoffmann hält in diesem Semester die Gastprofessur am Institut für jüdisch-christliche Forschung der Universität Luzern.

Holocaust-Gedenkstätte in Berlin | © pixelio.de Dirk Schröder
9. November 2018 | 11:49
Lesezeit: ca. 4 Min.
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Vor 80 Jahren brannten in Deutschland die Synagogen

«Der Sturm begann nachts halb drei Uhr», berichtete die «Neue Zürcher Zeitung» über die Ereignisse in Berlin. Am Abend des 9. November 1938, vollzog sich in Deutschland der bis dahin grösste Pogrom der Neuzeit in Mitteleuropa.

Die auch als Reichskristallnacht bezeichneten Gewalthandlungen hatten eine Vorgeschichte: Körperliche Übergriffe, Einschüchterung und Entrechtung waren in Deutschland bereits seit der Machtergreifung Hitlers 1933 an der traurigen Tagesordnung.

Die Pogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung jüdischer Deutscher hin zur systematischen Verfolgung und zur Schoah. Von den Novemberpogromen führte der Weg nach Auschwitz, Treblinka und Buchenwald.

Das Ausland nahm die Ereignisse hin. Zwar gab es weltweit viel Mitleid mit den Juden. Aber nur wenige Länder waren bereit, jüdische Auswanderer in grösserer Zahl aufzunehmen. (kna)