Beleuchtung des Eiffelturms nach den Anschlägen in Paris
Schweiz

Generalsekretär «Justitia et Pax»: «Westliche Bomben sind neue Argumente für Islamisten»

Zürich, 28.11.2015 (kath.ch) Angesichts von nicht abreissenden Flüchtlingsströmen, Terroranschlägen oder der Bombardierung von sogenannten «Rebellennestern» stellt sich die Frage: Wo ist der Platz für christliche Grundansprüche wie Gerechtigkeit und Frieden? Ein Gespräch mit Wolfgang Bürgstein, dem Generalsekretär der bischöflichen Kommission «Justitia et Pax».

Martin Spilker

Nach den Terroranschlägen in der französischen Hauptstadt wurde von einem «Krieg gegen die Gesellschaft» und notwendiger militärischer Vergeltung gesprochen. Kann man gegenüber gewalttätigen Akten wie Terror und Krieg überhaupt friedfertig bleiben? Bürgstein: «Man darf nicht alles preisgeben», sagt er mit Verweis auf die öffentliche Sicherheit und die Tragik solcher Ereignisse für Direktbetroffene. Er spricht sich aber deutlich gegen Gewalt als Antwort aus. Denn Krieg als Reaktion auf Terror ziehe letztlich nur wieder weitere Gewalt nach sich. Oder: «Westliche Bomben sind neue Argumente für Islamisten.»

Schmerzliche Erfahrungen

Bürgstein stellt fest, dass die durch Krieg und Terror gezeichnete Menschheit gewiss Erfahrungen habe, auf solche Ereignisse zu reagieren. Nach wie vor aber herrsche in der Politik die Meinung vor, dass auf Terror eine militärische Antwort folgen müsse. «Ein Politiker muss selbstverständlich sofort eine Entscheidung treffen und dafür die Verantwortung tragen», räumt er ein. Aber die Politik müsse auch die langfristigen Konsequenzen einer solchen Entscheidung einbeziehen.

Dieses Verständnis fehle aber vielerorts. Zwar hätten besonnene Politiker nach den Anschlägen in Paris auf den Unterschied zwischen Islamisten und Muslimen, zwischen Tätern und Unbeteiligten, hingewiesen. Viele aber kümmerten sich nicht um eine solche Differenzierung. Was für Bürgstein fatal ist, denn: «Jeder neue Gewaltakt verstärkt vorhandene Vorurteile.» Das lasse sich in der Schweiz beispielsweise unmittelbar in den folgenden Wahl- und Abstimmungsresultaten ablesen.

Ganzheitliche Sicht ist gefragt

Gerechtigkeit und Friede, so der Generalsekretär der Kommission, die diesen Namen trägt, brauche eine umfassende, eine ganzheitliche Sicht auf die Gesellschaft. Jede Handlung ziehe nicht nur eine, sondern viele Wirkungen nach sich. Einen ganzheitlichen Ansatz zu einer friedlichen Gesellschaft sieht Bürgstein beispielsweise im Lehrschreiben «Laudato si» von Papst Franziskus über die «Sorgen für das gemeinsame Haus».

«Bei vielen politischen Entscheidungen spielt Religion eine Rolle»

Wie aber kann ein so hoher, religiöser Anspruch im Alltag, in der Politik eingefordert werden? Oder müssen Fehlentscheide einfach in Kauf genommen werden? Und was, wenn dies im Namen Gottes, einer Religion geschieht? Bürgstein relativiert: «Amoralische Politik gibt es nicht.» Die Frage sei, auf welche Moral, auf welche religiösen Grundsätze sich Politik berufe. «Bei vielen politischen Entscheidungen spielt Religion eine Rolle», sagt Bürgstein, «die Frage ist, wie die Religion für die Politik ausgelegt wird.»

Auch Religion hat Gutes und Schlechtes

Im Namen der Religion sind in der Menschheitsgeschichte immer wieder grausame Handlungen vorgenommen worden, sagt der «Justitia et Pax»-Generalsekretär. Hier dürfe aber, und das sei heute gegenüber dem Islam von grosser Bedeutung, die eigene Religion nicht ausgeklammert werden. Denn auch im Namen des Christentums wurde Gewalt und Ungerechtigkeit ausgeübt.

Wenn schon die Religion zum Guten wie zum Schlechten herangezogen wird, so stehe die Politik vor einer noch grösseren Herausforderung. Denn Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Und zwischen dem Anspruch nach individueller Freiheit und dem Wunsch nach Sicherheit tue sich ein weites Feld auf. «Wenn gleichzeitig Freiheit und mehr Sicherheit gefordert werden, dann entsteht notgedrungen eine Spannung», so der Ethiker.

Spiritualität und Erfahrung

Aber auch Religion stehe in der Versuchung, Sicherheit bieten zu wollen. Sicherheit, die auch die religiöse Institution letztlich nicht garantieren könne. «Der Glaube ist ein Akt der Freiheit», sagt Bürgstein. Die Suche nach Gott, der Zweifel und das Ringen mit Religion seien auch eine Chance und schafften eine Grundlage, auf der beispielsweise eine angemessene Reaktion auf Gewalt wachsen könne.

Das zu vermitteln und Menschen auf diesem Entscheidungsweg zu stärken, sei Aufgabe der Religionen, ist Bürgstein überzeugt. Das Christentum könne dabei auf einen grossen Schatz zurückgreifen: die Spiritualität, wie sie in den Orden gelebt und gepflegt wird. Wichtig sei auch der Erfahrungsschatz der Angehörigen religiöser Gemeinschaften an der Basis. Denn Glaubensüberzeugungen müssten gegenüber Terror und Gewalt sichtbar werden. Und dazu brauche es Menschen, die diese Überzeugung vorleben und immer wieder betonen. (ms)

Zum Thema: Der Churer Generalvikar Martin Grichting fordert in einem Gastkommentar in der NZZ (27. November) einen theologischen Diskurs über Religionsfreiheit und Fundamentalismus.

Beleuchtung des Eiffelturms nach den Anschlägen in Paris | © keystone
28. November 2015 | 18:00
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Wolfgang Bürgstein, Geschäftsführer Schweizer Nationalkommission "Justitia et Pax" | © zVg Wolfgang Bürgstein, Geschäftsführer Schweizer Nationalkommission «Justitia et Pax» | © zVg

«Justitia et Pax»

Die Schweizerische Nationalkommission «Justitia et Pax» (Gerechtigkeit und Frieden) ist im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) tätig. Die Kommission besteht aus Fachleuten, die sich in der Zivilgesellschaft mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit und mit politischem Engagement zugunsten des «Wohls des Menschen» beschäftigen.

Interimspräsident der Kommission ist Thomas Wallimann-Sasaki, Vertreter der SBK ist der Basler Bischof Felix Gmür. Die Geschäftsstelle der Kommission hat ihren Sitz in Freiburg i.Ü. und wird seit 2006 von Wolfgang Bürgstein (Bild) geleitet. Bürgstein ist Theologe und Nationalökonom und nebenberuflich als Kirchgemeinderat in seiner Wohngemeinde tätig. (ms)