Besinnungsweg "Jahr der Barmherzigkeit" in St. Gallen
International

«Werke der Barmherzigkeit» sind Menschenpflicht und kein exklusives Gut

Wien, 3.12.16 (kath.ch) Die Wiederentdeckung der christlichen «Werke der Barmherzigkeit» als verbindliche und religions- sowie kulturübergreifende Menschenpflichten: Dafür spricht sich die deutsche Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann aus. Damit richtet sie sich allerdings nicht allein an Christen.

«Es ist an der Zeit, sich daran zu erinnern, dass die Werke der Barmherzigkeit zum Kern der christlichen Religion gehören, aber kein exklusives Gut darstellen, weil die Grundregeln des friedlichen Miteinanders alle Kulturen und Religionen auf der Welt verbinden», schreibt Assmann in einem Gastbeitrag in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift «miteinander» des Canisiuswerkes.

Barmherzigkeit – schon vor 4000 Jahren ein Thema

Das kürzlich zu Ende gegangene «Jahr der Barmherzigkeit» hatte zum Ziel, an die christlichen «Werke der Barmherzigkeit» zu erinnern, zu denen die praktischen Werke wie «Hungrige speisen», «Durstige tränken», «Fremde beherbergen», «Nackte bekleiden», «Kranke besuchen», «Gefangene besuchen» und «Tote begraben» zählen.

Diese Werke der Barmherzigkeit seien kein exklusives christliches Gut, sondern reichten in ihren Wurzeln bis ins alte Ägypten zurück, so Assmann. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann, hatte sie zuletzt an einer Rekonstruktion verbindender und kulturübergreifender moralischer Regeln und Normen unter dem Stichwort «Menschenpflichten» gearbeitet. So seien die Grundformen dieser Werke der Barmherzigkeit bereits im alten Ägypten vor über 4000 Jahren kodifiziert worden.

Flüchtlingskrise fordert neuen Gesellschaftsvertrag

Zu einer Wiederentdeckung dieser Grundregeln als «Menschenpflichten» nötige laut Assmann vor allem die aktuelle Flüchtlings- und Migrationskrise, die gerade Europa vor eine gesellschaftliche Zerreissprobe stelle. Die Flüchtlings- und Integrationsproblematik stelle die «Frage nach dem sozialen Zusammenhalt mit neuer Dringlichkeit», so die Kulturwissenschaftlerin: «Um die Flüchtlinge aufzunehmen und die demokratischen Grundlagen dabei zu festigen, bedarf es eines neuen Gesellschaftsvertrags, der das friedliche Zusammenleben abstützt.»

Ein solcher neuer Gesellschaftsvertrag müsse auf «humanen Tugenden» wie Menschenliebe, Gerechtigkeit und Duldsamkeit als Ergänzung der Menschenrechte basieren: «Zusätzlich zu den Menschenrechten, die Grundrechte festhalten und Ansprüche formulieren, brauchen wir deshalb Menschenpflichten, die die Formen eines sozialen Umgangs regeln.»

Für eine «Erklärung der Menschenpflichten»

Tatsächlich gebe es einen solchen Katalog an Menschenpflichten bereits, erinnerte Assmann an die 19 Artikel umfassende «Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten», die 1997 auf Initiative des «InterAction Council» ausgearbeitet wurde. Das Aktionskomitee, dem unter anderem Helmut Schmidt, Franz Vranitzky, Shimon Peres und andere Staatsleute angehörten, hatte den Katalog bei den Vereinten Nationen eingereicht. Dort sei die Erklärung jedoch «in einer Schublade verschwunden und vergessen worden», so Assmann. «Wie gut also, dass es die Menschenpflichten schon gibt – wir brauchen sie also nur wiederzuentdecken und zu praktizieren».

Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann lehrte unter anderem an den Universitäten Konstanz, Princeton, Yale und Wien. Gemeinsam mit ihrem Mann Jan Assmann erhielt sie 2016 den «Theologischen Preis» der Salzburger Hochschulwochen. (kap)

Besinnungsweg «Jahr der Barmherzigkeit» in St. Gallen | © Georges Scherrer
4. Dezember 2016 | 09:11
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