Jeanine Kosch, katholische Seelsorgerin
Schweiz

Warten – worauf?

Die Corona-Epidemie lähmt das Land und löst bei uns mitunter Panik aus. Jeanine Kosch* schreibt in einem Gastbeitrag, wie Asylsuchende in der Schweiz die einschneidenden Veränderungen erleben.

«Wir sind aus unserem Land geflüchtet, der Krieg vertrieb uns. Nun sind wir in der Schweiz, und jetzt ist da dieses Virus.» Diese Worte sitzen. Sie wurden nicht vorwurfsvoll gesprochen, eher hilflos und traurig. Was für uns menschlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich eine grosse Herausforderung ist, ist für Flüchtlinge eine Verlängerung ihres Elends.

Für Flüchtlinge stellen sich ganz andere Fragen.

Während ich aus meinem Trott herausgerissen wurde, meine Freiheit für den Moment eingeschränkt ist, weiss ich mich doch in einem staatlichen und gesellschaftlichen Gefüge gehalten. Das heisst nicht, dass ich mir nicht Sorgen mache um mir nahestehende Menschen, die an der gesundheitlichen und ökonomischen Krise leiden. Aber für Flüchtlinge, die diese Tage mit uns erleben, stellen sich noch einmal ganz andere Fragen.

Da ist die Minderjährige, die in den letzten Monaten viel Stärke bewiesen hat. Sie kommt aus einem Flüchtlingscamp in Griechenland. Ihre Familie ist noch dort. Die Eltern haben viel Geld bezahlt für einen Schlepper.

Sie wollte nur lernen.

Als sie hier ankam wollte sie nur eines: Lernen! Sie ging zur Schule, lernte auch am Wochenende mit einer App auf dem Handy deutsch. Sie bekam eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung aber ihr wurde auch gesagt, dass ihre Familie nicht nachkommen könne.

Sollte sie nun glücklich sein über den Bescheid, dass sie bleiben darf oder traurig, dass sie ihre Familie noch lange nicht sieht, wenn überhaupt je wieder? Kurz nachdem der Bundesrat den «Lock down» beschlossen hat, ruft sie mich an. Sie weint und teilt mir mit, dass sie nun in einen anderen Kanton verlegt wurde.

Willkommenszeichen im früheren Bundesasylzentrum Gubel
Willkommenszeichen im früheren Bundesasylzentrum Gubel

Die gute Nachricht ist, dass sie aus dem Bundesasylzentrum in ein kantonales Asylzentrum verlegt wurde, was einen weiteren Schritt der Integration möglich macht. Die schlechte Nachricht ist, dass die momentane Situation einen Kontakt mit anderen Menschen sozusagen verunmöglicht. Auch ich kann sie im Moment nicht besuchen.

Eine andere Isolation als meine Quarantäne.

Einmal mehr wurde sie in ihrem jungen Leben aus ihrem bekannten Umfeld herausgerissen – wie schon so oft auf ihrer jahrelangen Flucht – sie ist isoliert an einem Ort den sie nicht kennt, unter ihr fremden Menschen, mit einer ungewissen Perspektive. Eine wahrhaft andere Isolation als meine Quarantäne in meinen eigenen vier Wänden mit Computer und Büchern, netten Nachbarn und Freunden, die anrufen.

Allein in einer fremden Umgebung, Eltern und Geschwister in einer desolaten Situation und immer in der Nacht die Traum-Bilder der Flucht: eingepfercht in einen Lastwagen, kaum Sauerstoff. Dann das Camp mit Tausenden von anderen Flüchtlingen. Und mitten drin die eigene Familie, der man nicht helfen kann. Hart für eine Achtzehnjährige.

Jetzt geht gar nichts mehr.

Inzwischen sind die Asylverfahren, beziehungsweise die Interviews mit den Asylsuchenden ausgesetzt, jetzt geht gar nichts mehr, einmal mehr ist nur warten angesagt, aber nicht warten, dass wieder Normalität einkehrt, sondern warten auf das Ungewisse.

Das musste ich auch jenem Mann erklären, der die Seelsorge sprechen wollte, weil er – endlich in einem freien Staat – christliche Mitbrüder und Mitschwestern kennen lernen wollte. Da wo er herkommt, gehörte er als Christ einer verfolgten Minderheit an.

Er verstand die Welt nicht mehr.

Nun ist er in der Schweiz angekommen und sehnte sich nichts so sehr, als mit einer christlichen Gemeinschaft Gottesdienst zu feiern. Als ich ihm sagte, dass das nicht geht, weil zurzeit keine Gottesdienste stattfinden, verstand er die Welt nicht mehr.

Das Bundesasylzentrum Zürich an der Duttweilerstrasse
Das Bundesasylzentrum Zürich an der Duttweilerstrasse

Keine Gottesdienste in der Schweiz, in einem freien Land? Ich erklärte ihm die Situation, dass es nichts mit Glaubensfreiheit zu tun habe, sondern ein Virus, eine Krankheit schuld sei an dieser Massnahme. Auch ihm bleibt nun nichts anderes übrig als zu warten auf den Moment, an dem er mit Brüdern und Schwestern seinen Glauben feiern kann.

Beeindruckt hat mich ein Gespräch mit einer afrikanischen Frau. In fast stoischer Ruhe erduldet sie die Realität. Ich frage sie, ob sie Neuigkeiten von ihrer Familie aus Afrika habe. WhatsApp sei Dank gibt es diese kostenlosen Verbindungen in die Heimat oder zur Familie.  

Wenn Corona Afrika erreicht, wird es eine Katastrophe.

Nun wird die Frau nachdenklicher. Ja, sie habe Kontakt zur Mutter, diese sei sehr besorgt, denn wenn Corona Afrika erreicht, wird es eine Katastrophe. Nicht nur wegen dem maroden Gesundheitssystem, auch wegen dem täglichen Überlebenskampf.

Ihre Familie kann nicht für mehrere Tage einkaufen, bei ihr im Dorf geht man jeden Tag zur Arbeit und verdient sich etwas Geld, damit geht man einkaufen. Wenn es keine Arbeit mehr gibt wegen dem Virus, gibt es auch nichts einzukaufen, so einfach sei das in ihrer Heimat.

Wir leben in verschiedenen Realitäten.

Ich erzähle ihr nichts von Hamsterkäufen in der Schweiz, dass hier Menschen Toilettenpapier bunkern, welches für Monate reicht und die Gestelle täglich leergefegt werden, obwohl genügend Nachschub da ist. Wir leben in verschiedenen Realitäten.

Alle warten wir in diesen Tagen auf Normalität. Nur ist meine Perspektive was Normalität ist eine andere als die der Flüchtlinge. Gleich bleibt die Sehnsucht, Sehnsucht nach gelingenden Beziehungen, nach Sicherheit, auch ökonomischer Sicherheit und der Wunsch nach Gesundheit.

Ich bin zuversichtlich, dass es unserem Staat und unserer Gesellschaft gelingt diese Krise solidarisch durchzustehen, so dass wir entspannt in die Zukunft blicken können. Weniger zuversichtlich bin ich da für die Asylsuchenden, sie können weniger hoffnungsvoll in ihre Zukunft blicken. Ihre Sehnsucht nach einem gelingenden Leben braucht wohl noch einen längeren Atem als unser Warten auf das Ende der Corona-Krise.

* Jeanine Kosch ist Seelsorgerin an den Bundesasylzentren Zürich und Embrach.

Jeanine Kosch, katholische Seelsorgerin | © Barbara Ludwig
26. März 2020 | 11:12
Lesezeit: ca. 4 Min.
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