Koran und Bibel – Gottes Wort im Menschenwort?

Gedanken zum Sonntag, 21. August

Der Koran – Gottes Wort; die Bibel – Gottes Wort im Menschenwort

Stephan Leimgruber*

Zwei fragwürdige Aussagen aus den vorgesehenen Lesungen springen in die Augen: a) «Da werdet ihr heulen und mit den Zähnen knirschen» (Lk 13, 28) – eine eschatologische Aussage über mögliche Strafen, die öfter in der Bibel anzutreffen ist; und b) «Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat (Hebr 12, 6).

Dass letztere Aussage ein Zitat aus Sprüche 3, 12 ist, macht die Sache nicht besser. Beide Aussagen a) und b)  können wir heute nicht mehr einfach  so tradieren und in der Homilie fortsetzen. Eine Pädagogik, die Angst macht mit Aussagen vom Heulen und Zähneknirschen und die irgendwelche Gewaltanwendung gutheisst, gehört der Vergangenheit an. Bei der ersten Aussage wird man den Akzent auf die Ernsthaftigkeit der Verkündigung des Reiches Gottes legen, bei der zweiten auf eine dialogische Erziehung, die ganz und gar auf die Rute verzichtet, weil damit die Würde der Kinder angetastet würde.
Die Bibel ist «Gottes Wort im Menschen Wort» heisst, dass sie im Unterschied zum Koran nicht nur von Gott stammt, sondern auch von Menschen einer bestimmten Zeit, dass sie von bestimmten Hagiographen mitverfasst ist. Alle biblischen Texte haben einen «Sitz im Leben», sind kontextuell verankert und abhängig von «vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen» (DV 12) sowie kulturellen Umständen. Diese Einsicht setzte sich in der katholischen Bibelhermeneutik offiziell erst in der Bibelenzyklika «Divino afflante spiritus» im Jahre 1943 durch und wurde in der Konzilskonstitution «Dei Verbum» (1965) bestätigt.
«Denn Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters Wort durch die Annahme menschlich-schwachen Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist» (DV 13).

Zeitbedingte erzieherische und eschatologische Vorstellungen sind in die Bibel eingeflossen, die geistgewirkt (inspiriert) bleiben,  deren Wahrheitsgehalt sich  aber im Laufe der Zeit geändert hat und die so nicht mehr zu verkündigen sind. (Andere Beispiele sind die antijudaistischen Stellen im Neuen Testament – etwa das Blutwort Mt 27, 25). Wichtig ist dann noch der Rezeptionsprozess durch die Hörerinnen und Hörer, wodurch die Bibel nach Karl Barth erst dann recht zum  Wort Gottes (im Menschenwort) wird, wenn sie von Herzen aufgenommen wird.
Dazu in deutlichem Unterschied ist für die grosse Mehrheit der Musliminnen und Muslime der Koran schlicht «Gottes Wort», das Allah durch den Engel Gabriel dem Propheten Muhammad geoffenbart hat. Gottes einzige Autorschaft ist denn auch der Grund, weshalb der Koran heilig ist und einen ehrfürchtigen Umgang verdient. Nach dem Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin ist der Koran die «Gründungsurkunde des Islam», das «bis heute unumstrittene Zentrum» dieser Religion und vor allem «die nie versiegende Quelle der dem Islam eigenen Spiritualität».

Durch den Vortrag des Vorbeters spricht Allah zu den Glaubenden, ähnlich wie Gott durch die Proklamation des Evangeliums zu den Christen spricht. Der Koran ist der Inbegriff der Offenbarung Gottes für Musliminnen und Muslime, während Jesus Christus für Christinnen und Christen der Inbegriff der Offenbarung Gottes ist. Deshalb ist der Islam die klassische Buchreligion, das Christentum indessen nicht, da es auf den  Erfahrungen der ersten Christgläubigen basiert, die dann in der Schrift festgehalten wurden.

Aus traditionell islamischer Sicht ist der Koran die arabische Variante der Offenbarung Gottes; er ist direkt und unmittelbar Gottes Wort. Er ist heilig und universal gültig. Jede Übersetzung ist ein Notbehelf, freilich unumgänglich, da Muslime auch andere Sprachen als arabisch zur Muttersprache haben. Nasr Habid Abu Said sprengt das herkömmliche Koranverständnis, indem er sieht, dass der Koran auch Literatur ist und somit den Gesetzen der Literatur unterworfen ist. Angelica Neuwirth sieht im Koran einen «Text der Spätantike», womit sie dem Koran einen historisch-kritischen Zugang eröffnet, den bereits die Islamwissenschafter des 19. Jahrhunderts begonnen haben, indem sie mekkanische von medinensischen Suren unterschieden. Wichtig für Muslime ist es freilich, mit dem Koran zu beten und damit Gott zu verehren, während für einige christliche Theologen zentral ist, die Bibel zu verstehen, ohne einen spirituellen Zugang zur Heiligen Schrift zu vernachlässigen.
Könnte es sein, dass Bibel und Koran «Gotteswort im Menschenwort» sind und Aussagen wie die eingangs genannten zeitbedingt und deshalb neu zu interpretieren sind?

*Stephan Leimgruber ist Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung im Bistum Basel zuständig.

23. Juli 2016 | 08:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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