Bischof Joseph Bonnemain beim Fest zu Ehren des "Señor de los Milagros".
Schweiz

Um Missbrauch aufzuarbeiten: Bonnemain kann sich eine «nationale, neutrale und professionelle Meldestelle» vorstellen

«Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld»: Der Churer Bischof Joseph Bonnemain ist bei der Schweizer Bischofskonferenz für dieses Dossier zuständig. Ein Gespräch über die jüngste Fachtagung, die aktuelle Vorstudie der Uni Zürich – und wie es nach Karin Itens Kündigung auf nationaler Ebene weitergeht.

Raphael Rauch

Am Mittwoch war Jahrestagung der schweizerischen diözesanen Fachgremien «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld». Ausser Ihnen haben Bischof Charles Morerod und Weihbischof Alain de Raemy an der Fachtagung teilgenommen. Warum ist die Fachtagung kein Pflichttermin für alle Bischöfe?

Bischof Joseph Maria Bonnemain*: Die Bischöfe haben täglich sehr viele Pflichten wahrzunehmen und manchmal gibt es Terminkollisionen. An der Tagung waren alle diözesanen Fachgremien gut vertreten. Ich bin überzeugt, dass die Thematik allen Bischöfen der Schweiz sehr wichtig ist und sie von den Mitgliedern ihres eigenen Gremiums informiert werden. 

Bischof Joseph Bonnemain
Bischof Joseph Bonnemain

Was haben Sie am Mittwoch gelernt?

Bonnemain: Ich habe nicht nur gelernt, vielmehr erlebt, wie wertvoll und wichtig es ist, dass Betroffene, kirchliche Verantwortliche, Bischöfe und Fachleute sich auf Augenhöhe begegnen, untereinander austauschen und gegenseitig ernst nehmen. Das Thema der jährlichen Tagung der Diözesanen Fachgremien der Schweiz, zuständig für die sexuellen Übergriffe im kirchlichen Umfeld, war: wie wichtig es ist, dass Opfer von spirituellem und sexuellem Missbrauch sich artikulieren können. Die Tagung hat einmal mehr das bestätigt. 

Synodaler Prozess: Bischof Joseph Bonnemain (rechts) im Gespräch mit Viktor Diethelm.
Synodaler Prozess: Bischof Joseph Bonnemain (rechts) im Gespräch mit Viktor Diethelm.

Welche konkreten Punkte haben Sie sich auf Ihre To-do-Liste geschrieben?

Bonnemain: Ich habe mir verschiedene Punkte notiert. Es hat mich sehr beeindruckt, von einem Betroffenen zu hören, man sollte das Wort Widergutmachung verbieten, weil es unmöglich ist, das Geschehene rückgängig zu machen. Es ist schlichtweg eine Utopie, von der wir uns verabschieden müssen. Ein zweites Anliegen, das ich sehr beherzige und mitnehme, ist: die Bereitschaft, unsere institutionelle Verantwortung wahrzunehmen. Die Anliegen, eine nationale, neutrale und professionelle Meldestelle einzurichten sowie den Betroffenen Zugang zu ihren Dossiers zu ermöglichen, stehen ebenfalls auf meiner To-do-Liste. Der erste Punkt auf dieser Liste bleibt immer noch: die Opfer in den Mittelpunkt zu stellen, nicht das Image der Institution. 

Chur hat bereits den Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht eingeführt.
Chur hat bereits den Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht eingeführt.

Ausser dem Verhaltenskodex: Was ist zurzeit die grösste Schwierigkeit in der Präventionsarbeit?

Bonnemain: Ich würde von der grössten Herausforderung sprechen, nicht von Schwierigkeiten. Mein grösstes Anliegen in diesem Fall ist, den erwünschten Kulturwandel in den oben angesprochenen Punkten zu vollziehen und langfristig zu bewahren. 

Medienkonferenz in Lausanne: Vier Forschende untersuchen die sexuellen Übergriffe im Umfeld der katholischen Kirche.
Medienkonferenz in Lausanne: Vier Forschende untersuchen die sexuellen Übergriffe im Umfeld der katholischen Kirche.

Zurzeit läuft eine Vorstudie der Uni Zürich, die den Missbrauchskomplex historisch aufarbeiten soll. Wurden Sie bereits für ein «Oral history»-Interview angefragt, um über Ihr Wissen zu Missbrauchsfällen Auskunft zu geben?

Bonnemain: Ich habe bereits zwei Gespräche mit zwei Forschenden, die die Studie betreuen, geführt. Sie waren dreimal in Chur und hatten Zugang zu allen Archiven, ausnahmslos. Ich gehe davon aus, dass weitere Gespräche folgen werden. Bestimmt tauchen noch Fragen auf, auf welche die Wissenschaftler Antworten suchen.  

Karin Iten sensibilisiert auf einer Schulung für den Umgang mit Handlungen im Graubereich.
Karin Iten sensibilisiert auf einer Schulung für den Umgang mit Handlungen im Graubereich.

Karin Iten hat bei der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) ihr 15-Prozent-Pensum gekündigt, Stefan Loppacher ist teilweise krankgeschrieben. Wer füllt auf nationaler Ebene das Vakuum?

Bonnemain: Karin Iten war gemeinsam mit Stefan Loppacher Geschäftsführerin des Sekretariates des Fachgremiums der SBK. Zusammen mit Stefan Loppacher ist sie Präventionsbeauftragte des Bistums Chur. Karin Iten hat ihre Stelle im Sekretariat des Fachgremiums der SBK gekündigt. Aus diesem Grund hat Stefan Loppacher ihr Pensum übernommen. Zu seiner Unterstützung wird eine administrative Stelle eingerichtet. Diese Reorganisation des Fachgremiums der SBK haben die SBK selber sowie die Römisch-Katholische Zentralkonferenz (RKZ) ermöglicht. Wir gehen davon aus, dass Stefan Loppacher ab Anfang 2023 wieder 100 Prozent arbeiten kann. 

Stefan Loppacher (vorne links) und Karin Iten (vorne rechts) sind die Präventionsbeauftragten des Bistums Chur.
Stefan Loppacher (vorne links) und Karin Iten (vorne rechts) sind die Präventionsbeauftragten des Bistums Chur.

Papst Franziskus hat angeregt, jährlich einen Gebetstag für Opfer sexuellen Missbrauchs zu begehen. Dieser findet rund um den 18. November statt, an dem zugleich der «Europäische Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch» ist. Warum spielt der im Bistum Chur keine Rolle?

Bonnemain: Wer hat gesagt, dass dieses Anliegen im Bistum Chur keine Rolle spielt? Ich möchte etwas tun, das wirklich den Bedürfnissen der Betroffenen entspricht und deshalb ihre Anliegen aufnehmen. Die Tagung am vergangenen Mittwoch habe ich genützt, um mit den Betroffenen diese Frage zu besprechen. Ihre Antwort war klar: Für sie steht ein gemeinsames Beten nicht im Vordergrund, sondern die Möglichkeit, sich auf Augenhöhe auszutauschen. Genau das kam während der letzten Tagung wieder einmal klar zum Ausdruck. Ein Betroffener erzählte mir, dass er beim Zuhören und dem Austausch mit anderen Betroffenen neue Erkenntnisse erhalten habe. Ich überlege mir, in welcher Form wir solche Begegnungen fortsetzen können. Ritualisierte Anlässe möchte ich nicht einführen, nur um sagen zu können, dass wir etwas getan haben. Das, was sich Betroffene wünschen, liegt mir am Herzen. 

Bischof Joseph Bonnemain unterschreibt den neuen Verhaltenskodex am 5. April 2022.
Bischof Joseph Bonnemain unterschreibt den neuen Verhaltenskodex am 5. April 2022.

Was nehmen Sie sich für 2023 konkret vor?

Bonnemain: Als Ressortverantwortlicher der SBK bin ich für dieses Anliegen zuständig. Ich habe mir vorgenommen, mit meinen Kollegen in der SBK die eben besprochenen Anliegen zu besprechen und sie bestmöglich umzusetzen. Zugleich bleibt für uns immer noch ein grosses Anliegen, alles zu tun, damit die Pilotstudie, die aktuell läuft, bis im Herbst 2023 einwandfrei abgeschlossen werden kann. Dann werden die Wissenschaftler ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit präsentieren. Bereits jetzt müssen wir als SBK die Voraussetzungen schaffen, damit die Empfehlungen, welche die Projektleiter der Pilotstudie bestimmt vorbringen werden, umgesetzt werden können. Eine weitere Herausforderung für uns bleibt, Betroffene, die sich bis heute nicht gemeldet haben, anzusprechen. Wir möchten sie ermutigen, sich zu melden. Es ist der erste Schritt, das Erlebte hoffentlich zu verarbeiten.

* Joseph Maria Bonnemain (74) ist Bischof von Chur und für die Schweizer Bischofskonferenz für das Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» zuständig. Er antwortete schriftlich auf die Fragen von kath.ch.


Bischof Joseph Bonnemain beim Fest zu Ehren des «Señor de los Milagros». | © Christian Merz
19. November 2022 | 08:20
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