Ein Muslim macht Fotos mit seinem Mobiltelefon.
Schweiz

Über 40 Prozent der muslimischen Jugendlichen lehnen den Westen ab

Winterthur/Luzern, 12.11.18 (kath.ch) 43 Prozent der muslimischen Jugendlichen in der Schweiz halten nichts von westlichen Gesellschaften. Rund ein Fünftel spricht sich für die Einführung der Scharia in der Schweiz aus. Dies zeigt eine eine neue Studie zu Extremismus unter Jugendlichen. Die Ergebnisse überraschen den Luzerner Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti nicht, wie er gegenüber kath.ch sagte.

Barbara Ludwig

Die Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) und die Haute Ecole de Travail Social Fribourg (HETS-FR) haben im vergangenen Jahr eine schweizweite, aber gleichwohl nicht repräsentative Befragung zur Verbreitung extremistischer Einstellungen und Verhaltensweisen unter Jugendlichen durchgeführt. Im Fokus standen nebst dem islamistischen Extremismus auch der Rechts- und der Linksextremismus.

Einstellungen und Verhaltensweisen erfasst

Dabei wurden rund 8300 Jugendliche im Alter von 17 bis 18 Jahren in zehn Kantonen befragt. Fast jeder zehnte Befragte (9,6 Prozent) gehörte dem Islam an, heisst es in der Studie. Bei allen drei Formen von Extremismus wurden Einstellungen und Verhaltensweisen erfasst.

«Die islamischen Gesetze sind besser als die Schweizer Gesetze.»

Bei den islamistischen Einstellungen ergaben sich teils hohe Zustimmungsraten. So haben 20,9 Prozent der muslimischen Befragten der Aussage zugestimmt, wonach «sich die Schweiz nach den Gesetzen der Scharia ausrichten sollte, nach denen zum Beispiel Ehebruch oder Homosexualität hart bestraft werden». 21,7 Prozent stellten sich hinter die Aussage: «Die islamischen Gesetze der Scharia (…) sind viel besser als die Schweizer Gesetze».

Muslime «durch den Westen unterdrückt»

43 Prozent der befragten jungen Muslime lehnen westliche Gesellschaften ab. Die Ablehnung westlicher Gesellschaften wurde anhand von insgesamt fünf Aussagen erfasst, denen unterschiedlich stark zugestimmt wurde. Fast zwei Drittel (63,4 Prozent) teilen etwa die Ansicht, wonach «Muslime durch den Westen unterdrückt werden».

Ebenfalls zu den islamistischen Einstellungen zählte die Studie die Gewaltbereitschaft gegenüber Nichtmuslimen sowie die Befürwortung von Terrorismus beziehungsweise der Terrormiliz «Islamischer Staat». 2,3 Prozent der befragten muslimischen Jugendlichen hätten im Durchschnitt diesen beiden Dimensionen zugestimmt und seien «damit als gewaltbefürwortend einzustufen».

«Terrorphantasien» bei 5,4 Prozent

Bei den islamistischen Verhaltensweisen stellten die Forscher fest, dass physische Gewalt selten vorkommt. Insgesamt hätten 2,6 Prozent der befragten Muslime in den zurückliegenden zwölf Monaten körperliche Gewalt ausgeübt. 5,4 Prozent hätten von «Terrorphantasien» berichtet. «Jeweils etwa jeder 25. muslimische Befragte gab dabei an, über Gewalt und Terroranschläge beziehungsweise über eine Dschihadreise nachgedacht zu haben», heisst es in der Studie.

5,4 Prozent haben von «Terrorphantasien» berichtet.

Höhere Prozentzahlen gab es beim Konsum islamistischer Medieninhalte, den die Forscher ebenfalls zu den islamistischen Verhaltensweisen zählten. 30,8 Prozent der Befragten gaben an, solche Medieninhalte zu konsultieren.

Zusammenfassend stellt die Studie fest, dass 2,7 Prozent der muslimischen Jugendlichen den islamistischen Extremismus befürworten. Dieser «geringe Anteil» komme aber nur deshalb zustande, «weil die Gewaltbefürwortung gering ausgeprägt ist».

Islamforscher hält Ergebnisse für «plausibel»

Der Luzerner Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti zeigte sich auf Anfrage nicht überrascht von den Ergebnissen der neuen Studie. «Ich halte die Ergebnisse für insgesamt plausibel. Vieles von dem, was wir hier antreffen, passt sehr gut zu unseren eigenen Forschungsergebnissen», so der Koordinator des Zentrums Religionsforschung an der Universität Luzern gegenüber kath.ch. «Der hohe Anteil beim Konsum islamistischer Medieninhalte hat mich zum Beispiel überhaupt nicht überrascht, weil der einzelne Jugendliche eben unverbindlich die gegensätzlichsten Inhalte für sich in Betracht zieht.»

«Hier schwingt für mich eine Art von Protest mit.»

Aufgefallen sei ihm allerdings die hohe Zustimmungsrate von rund 20 Prozent bei den Aussagen zur Scharia. «Auf den ersten Blick ist das schon ein hoher Wert.» Tunger-Zanetti relativiert aber sofort: «Die Forderung nach einer Einführung der Scharia von der Schweizer Schulbank aus ist etwas völlig Utopisches. Ein junger Mensch kann da sehr leicht sagen, er finde das gut. Hier schwingt für mich auch eine Art von Protest mit.»

Menschen im Alter von 17 und 18 Jahren befänden sich generell auf der «Suche nach ihrer Identität und der passenden Weltanschauung», gab der Forscher zu bedenken. «Da schwirren bei jungen Leuten viele Ideen herum.» Manche würden eine Weile lang für gut befunden, dann in den meisten Fällen aber wieder fallengelassen. «In diesem Alter ist das alles sehr im Fluss.»

Der Luzerner Islamforscher hätte sich deshalb gewünscht, dass die Studie auch eine «Kontextuierung» vornimmt, weniger für die Fachleute als für das grosse Publikum. Der Leser sollte erfahren, «was es heisst, im Jugendalter auf einem Fragebogen Kreuzchen zu setzen, und was es nicht heisst», erläutert Tunger-Zanetti. Eine solche Einordnung fehle ihm.

Kein Anlass für politische Massnahmen

Insgesamt hält der Islamwissenschaftler die Studie von ZHAW und HETS-FR für wissenschaftlich «sehr interessant», insbesondere wegen der weiterführenden Fragen, die sie aufwerfe. Aber die bisherigen Resultate liessen es nicht zu, daraus unmittelbar gesellschaftspolitische Folgerungen oder gar Massnahmen abzuleiten. Dazu seien sie «zu wenig repräsentativ und in sich stimmig, wie die Studienautoren ja selber festhalten».

Co-Autor spricht von guter Aussagekraft für die Schweiz.

Auf die fehlende Repräsentativität weisen auch die Autoren der Studie hin. Die Ergebnisse der «Gelegenheitsstichprobe» könnten nicht auf die gesamte Schweiz generalisiert werden, heisst es in der Zusammenfassung der Studie. Denn man habe die zehn berücksichtigten Kantone bewusst ausgewählt. Zudem hätten sich zahlreiche Schule geweigert, an der Befragung teilzunehmen, was zu einer unterdurchschnittlichen Rücklaufquote führte.

Co-Autor Patrik Manzoni von der ZHAW bescheinigt der Studie trotzdem «eine gute Aussagekraft für die ganze Schweiz» zu, wie er auf Anfrage mitteilte. Dabei verweist er auf die grosse Anzahl von 8317 befragten Jugendlichen aus zufällig ausgewählten Klassen aller Schulformen.

Linksextremismus am meisten verbreitet

Die Untersuchung ergab, dass linksextremistische und rechtsextremistische Einstellungen stärker verbreitet sind als der islamistische Extremismus. Als linksextrem könnten 7,0 Prozent aller Befragten gelten, heisst es in der Zusammenfassung der Studie. Und 5,9 Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund seien als rechtsextrem einzustufen.

Bei allen Extremismusformen stellten die Forscher zudem fest, dass die Zustimmung zu den ideologischen Zielen höher ausfällt als die Befürwortung von Gewalt.

Ein Muslim macht Fotos mit seinem Mobiltelefon. | © Keystone
12. November 2018 | 16:47
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