Blick in die Ausstellung «Schiffe und Übergänge» am Völkerkundemuseum der Universität Zürich.
Religion anders

Tücher, die die Welt erklären

Zeigen die sogenannten «Schiffstücher» aus dem Süden Sumatras «Seelenboote», die Verstorbene in eine andere Welt transportieren? Oder steht das Schiff als Symbol für ein Inselvolk, das zwischen Wasser und Himmel navigiert? Einiges über die Funktion und die Motive auf den Textilien ist bekannt, über Vieles lässt sich nur spekulieren. Das Völkerkundemuseum Zürich lädt mit der Ausstellung «Schiffe und Übergänge» zum Nachdenken über Tradition, Material und Religion ein.

Natalie Fritz

Auf den ersten Blick erinnerte mich das grosse Schiff in der Mitte des «palepai», dieses grossformatigen Ritualtuches an die Arche Noah: Filigran gewebte Menschen und Tiere bevölkern ein mehrstöckiges Schiff, das zudem bepflanzt zu sein scheint.

Ritualtuch palepai mit Schiffsmotiv und Lebensbäumen, Kalianda, Provinz Lampung, Südsumatra. Inv.-Nr. 9709.
Ritualtuch palepai mit Schiffsmotiv und Lebensbäumen, Kalianda, Provinz Lampung, Südsumatra. Inv.-Nr. 9709.

Schiffe als Symbole des Lebens

Rettung vor dem Untergang auf südostasiatisch? Die Co-Kuratorin der Ausstellung «Schiffe und Übergänge», Paola von Wyss-Giacosa*, erklärt, dass die zentralen Motive dieses «palepai» das rote Schiff und die Lebensbäume links und rechts – symbolisch für die Gesellschaft und ihre Erneuerung stehen. «Die Lebensbäume sind bildliche Darstellungen der verschiedenen Generationen von Menschen, die aufeinander folgen», erläutert sie. «Die Gesellschaft erneuert sich stetig. In diesem Sinne können sie als Symbole des Lebens aufgefasst werden – wie auch die Schiffe.»

Die Schiffe? Bäume wachsen und leben, aber Schiffe als Symbol für das Leben?

Paola von Wyss-Giacosa: Ja, auch das Schiff kann als eine Darstellung der Gesellschaft aufgefasst werden.

Schiffstuch palepai, Kalianda, Provinz Lampung, Südsumatra (Ausschnitt). Inv.-Nr. 9709.
Schiffstuch palepai, Kalianda, Provinz Lampung, Südsumatra (Ausschnitt). Inv.-Nr. 9709.

Auf dem Schiff sehen wir mehr oder weniger stilisierte Figuren. Bei diesen könnte es sich um Darstellungen von lebenden Menschen zusammen mit ihren Ahnen handeln.

«Die Ahnen waren auch im Leben gegenwärtig.»

Auf dem Schiff werden so verschiedene Sphären oder Ebenen des Lebens vereint. Denn tatsächlich stellte man sich vor, dass die Ahnen, die Seelen der Verstorbenen, bei den Festen, Riten und Zeremonien gegenwärtig sind. Möglicherweise zeigt das «palepai» ein Fest, wie es tatsächlich gefeiert wurde, mit grossen Prozessionswagen in Schiffsform. Eine rituelle Vergegenwärtigung früherer Generationen und damit auch des Fortbestandes.

Verlorenes Wissen

Die sogenannten «Schiffstücher» aus dem Süden Sumatras sind textile Schätze, bei deren Betrachtung man schwelgen kann. Wie in einem Wimmelbuch entdeckt man immer wieder Neues. Die grossformatigen «palepai» waren dem Adel vorbehalten. Sie wurden innerfamiliär vererbt und bei Zeremonien eingesetzt, um den rituellen Raum zu kennzeichnen.

Schiffstuch tampan darat, Komering, Provinz Lampung, Südsumatra. Inv.-Nr. 15684.
Schiffstuch tampan darat, Komering, Provinz Lampung, Südsumatra. Inv.-Nr. 15684.

Die kleineren «tampan» waren für alle und bei Übergangsriten unverzichtbar. Doch seit über 100 Jahren werden keine solchen Textilien mehr gewoben. Das Wissen darüber, welchem Zweck sie eigentlich dienten, ist heute fragmentarisch.

Wie erklärt man sich diese Zäsur in der Überlieferung? Gab es eine oder mehrere Ursachen?

Von Wyss-Giacosa: Es gibt einerseits historische Gründe zu benennen: Diese Region war durch den Pfefferhandel zu grossem Reichtum gekommen; im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es aber zu finanziellen Krisen. 1883 brach der Vulkan Krakatau aus. Wegen der Eruption kamen Zehntausende ums Leben – auch dort, wo die Tücher, besonders die «palepai», hergestellt wurden. Zusätzlich führten die gesellschaftlichen Veränderungen dazu, dass sich die Gemeinschaft neu ordnete.

«Die Tücher verloren ihren sozialen Wert.»

Die Tücher, die Ausdruck einer bestimmten Ordnung waren, verloren ihren sozialen Wert und man bewahrte sie nur noch als alten Familienbesitz auf. Aus Respekt und Gewohnheit, aber nicht mehr zum Gebrauch.

Schiffstuch palepai, Semangka-Bucht, Südsumatra. Inv.-Nr. 35987.
Schiffstuch palepai, Semangka-Bucht, Südsumatra. Inv.-Nr. 35987.

Materielles Kulturerbe in der Fremde

Die im Völkerkundemuseum ausgestellten Stücke sind Teil der hauseigenen Sammlung. Der frühere Direktor des Museums, Alfred Steinmann, der über 15 Jahre in Indonesien arbeitete und forschte, kam Anfang der 1930er-Jahre mit den Tüchern in Kontakt.

Alfred Steinmann, frühe 1930er Jahre. Inv.-Nr. VMZ.120.01.007.
Alfred Steinmann, frühe 1930er Jahre. Inv.-Nr. VMZ.120.01.007.

Danach hatte er sich eingehend mit diesen Textilien befasst und ein grossformatiges «palepai» sowie ein kleineres «tampan» erworben. Weitere wurden ihm von einer Sammlerin in Aufbewahrung gegeben. Kurator*innen der folgenden Generation kauften ebenfalls Tücher für die Sammlung an.

Wieso bewahrt das Museum die Tücher bis heute? Weshalb werden sie nicht restituiert?

Von Wyss-Giacosa: In Zeiten der Armut beschlossen viele Familien, sich von den Tüchern zu trennen. Für sie hatten sie keinen gesellschaftlichen Wert mehr, sie wurden auch nicht gebraucht. Kommerziell liessen sich die Tücher aber durchaus verwerten. Sie verkauften meist an lokale (Zwischen)-händler. Die Tücher wurden dann häufig in Jakarta auf Kunstmärkten an internationale Kundschaft verkauft. Es bestehen meines Wissens in keinem Fall Restitutionsforderungen für solche Tücher.

Blick in die Ausstellung «Schiffe und Übergänge» am Völkerkundemuseum der Universität Zürich.
Blick in die Ausstellung «Schiffe und Übergänge» am Völkerkundemuseum der Universität Zürich.

Tücher für die Toten?

Man weiss wenig über die Funktion und die Motive der Schiffstücher. Wieso ging Steinmann davon aus, dass es sich bei den Schiffstüchern um rituelle Textilien für einen Totenkult handelte?

Von Wyss-Giacosa: Steinmann betrieb Motiv- und Kulturgeschichte. Er stellte fest, dass sich im südostasiatischen Raum für eine Periode, die bis in die Bronzezeit zurückreichte, häufig Darstellungen von Schiffen ohne Antrieb dokumentieren lassen.

«Schiffe ohne Antrieb verweisen auf eine andere Art der Reise.»

Gleichzeitig gab es auch Darstellungen von fahrbaren Schiffen. Steinmann schloss daraus, dass die Schiffe ohne Antrieb auf eine andere Art der Reise verweisen sollten. In vielen Kulturen dieser Region wurden zahlreiche Rituale für die Toten und Ahnen gepflegt, bei denen solche besonderen Schiffe eine zentrale Rolle spielten.

Planke der Ngaju-Dayak mit Totenschiff-Darstellung, Süd-Kalimantan, vor 1932. Bernisches Historisches Museum. Inv.-Nr. E/1932.253.0281.
Planke der Ngaju-Dayak mit Totenschiff-Darstellung, Süd-Kalimantan, vor 1932. Bernisches Historisches Museum. Inv.-Nr. E/1932.253.0281.

Steinmann stellte deshalb einen vorsichtigen Zusammenhang zwischen den Schiffstüchern Südsumatras und einem Totenkult her. Auch weil in diesen Darstellungen immer wieder Ahnen in Reihen, also Generationen, repräsentiert sind.

Und was sollen die Spiegelungen, die wir bisweilen auf den Tüchern entdecken, bedeuten?

Von Wyss-Giacosa: Einerseits ergeben sich die Spiegelungen der Motive aus der Technik, in der diese Tücher gearbeitet sind – und sind klar ein ästhetisches Gestaltungsprinzip.

«Das Dies- und das Jenseits sind spiegelverkehrte Welten.»

Ritualtuch tampan mit gespiegeltem Schiffsmotiv, Komering-Region, Lampung, Südsumatra. Inv.-Nr. 10736.
Ritualtuch tampan mit gespiegeltem Schiffsmotiv, Komering-Region, Lampung, Südsumatra. Inv.-Nr. 10736.

Für Steinmann ging es aber auch darum, dass hier das Dies- und das Jenseits wie Spiegelbilder inszeniert werden. Im Jenseits wird also umgekehrt, was uns im Diesseits bekannt und vertraut ist. Besonders eindrücklich ist eine solche Spiegelkomposition bei dem «tampan», den Steinmann 1945 in Zürich für das Museum erwarb.

Unfassbares fassbar gemacht

Das heisst also, dass wir hier ein ganzes Weltbild auf den Tüchern dargestellt haben mit Leben und Tod. Könnte man dann sagen, dass die Textilien religiöse Orientierung zum Anfassen sind?

Von Wyss-Giacosa: Richtig anfassen durfte man die «tampan», die «palepai» sicherlich nicht. Aber all diese Tücher haben/hatten eine beachtliche Wirkmächtigkeit. Solche Artefakte gibt es auch bei uns.

«Artefakte sind Erinnerungsspeicher – durch sie wird Wissen und Kultur vermittelt.»

Wir können sie auf ganz unterschiedliche Weisen anschauen und befragen und über das Studium von «Dingen» sehr viel über Kultur lernen. Diese Artefakte sind Erinnerungsspeicher, sie sind gewissermassen verdichtete Kultur. Bei Textilien spielt immer der Bezug zum Körper eine Rolle. Textilien verhüllen und machen zugleich sichtbar. Durch ihre Flexibilität und die grosse Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten sind sie zentrale Mittel der nonverbalen Kommunikation.

Und damit wir ganz zum Schluss wieder bei Noah und den jüdisch-christlichen Traditionen landen: Gab oder gibt es hier vergleichbare Textilien oder Textilpraktiken?

Von Wyss-Giacosa: Tapisserien, würde ich sagen.

Tapisserie aus der Burrell Collection, «The Triumph of Divine Wisdom» (Der Triumph göttlicher Weisheit»). Krönungsteppich um ca. 1520
Tapisserie aus der Burrell Collection, «The Triumph of Divine Wisdom» (Der Triumph göttlicher Weisheit»). Krönungsteppich um ca. 1520

Die gewirkten Bildteppiche sind kunstvoll gestaltet und als Wandbehänge schaffen sie – wie die «palepai» einen bestimmten Raum. Dieser ist wie auch die Motive ein Ausdruck der jeweiligen Gesellschaftsordnung und ihres Weltbildes.

* Paola von Wyss-Giacosa ist Ethnologin und Kunstwissenschaftlerin. Sie arbeitet regelmässig als Gastkuratorin am Völkerkundemuseum Zürich. Zusammen mit Andreas Isler, ebenfalls Ethnologe, hat sie die Ausstellung «Schiffe und Übergänge» kuratiert.


Blick in die Ausstellung «Schiffe und Übergänge» am Völkerkundemuseum der Universität Zürich. | © Kathrin Leuenberger
25. September 2021 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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Ausstellung «Schiffe und Übergänge»

Schiffe, die zwischen Himmel und Erde, zwischen Wasser und Festland navigieren. Schiffe, die Verstorbene transportieren – im übertragenen und im Wortsinn – und bei rituellen Festakten eingesetzt werden. Die Ausstellung im Völkerkundemuseum der Universität Zürich präsentiert sogenannte «Schiffstücher» aus Südsumatra, die deutlich machen, wie sehr die Funktion und überliefertes Wissen die Bedeutung eines bestimmten Artefakts prägen. Die Schiffstücher sind nicht einfach schön gewobene Stoffe mit Schiffen drauf, sondern hatten eine wichtige soziale und (übergangs-)rituelle Funktion. Diese Tatsache spiegelt sich auch in den Motiven, deren Bedeutung sich heute nur teilweise rekonstruieren lässt. Eine ganz neue Erfahrung von Materialität, Raum, Religion. (nf)

Publikation zur Ausstellung «Schiffe und Übergänge»

Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Oktober geöffnet. Völkerkundemuseum der Universität Zürich, Pelikanstr. 40, 8001 Zürich. Die Buchvernissage findet am Sonntag, 26. September, von 13:00–17:00 (Zertifikatspflicht) statt.

Videopodcasts und Informationen: https://www.musethno.uzh.ch/de/ausstellungen/schiffe_und_uebergaenge.html