Andrea Meier, Leiterin der Fachstelle Jugend der Katholischen Kirche Region Bern
Porträt

Theologin Andrea Meier: «Das Frauenpriestertum ist nicht mein Kampf»

Lieber setzt sich die Berner Theologin Andrea Meier (37) für die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf ein. Die neue SRF-Radiopredigerin engagiert sich für eine Kirche, in der die Gemeinde den Ton angibt.

Eva Meienberg

Die Schafe stehen parat für ihren Krippeneinsatz hinter der Offenen Kirche auf dem Berner Bahnhofplatz. Deren Geschäftsführerin, Andrea Meier, fährt gerade mit dem Velo vor. Sie schiebt unseren Gesprächstermin dazwischen. Das Vorweihnachtsprogramm ist dicht. Aus der Ruhe bringen lässt sich die Theologin aber nicht. Dass sie Energie drüber hat, was sie später erklären wird, ist sofort spürbar.

Andrea Meier, Leiterin der Fachstelle Jugend der Katholischen Kirche Region Bern
Andrea Meier, Leiterin der Fachstelle Jugend der Katholischen Kirche Region Bern

Andrea Meiers Geschichte nimmt ihren Anfang in Ziefen. Dort im oberen Baselbiet wächst sie zusammen mit ihrer Schwester auf. Sehr ländlich, 300 Einwohnende, nur drei Mädchen sind gleich alt wie sie.

Andrea Meiers Mutter war Kindergärtnerin, der Vater Tierpräparator. Gemeinsam mit Gleichgesinnten bauen sie ein Haus um. Ihre Eltern beschreibt sie als sehr flexible Menschen, die ihre Wohnsituation immer wieder den veränderten Bedürfnissen angepasst haben. Sie seien aber keine Individualisten, präzisiert Andrea Meier.

Sich heimisch machen

Andrea Meier ist in ihrer Kindheit siebenmal umgezogen. «Man kann sich überall heimisch machen», sagt Andrea Meier. Ihre Eltern hätten ihr vorgelebt, dass auch Zugezogene sich in eine Gemeinschaft einbringen können. Der Vater war Präsident des Vogelschutz-Vereins, die Mutter Katechetin in der Pfarrei.

«Kirche war immer auch politisch.»

«Pfarreileben war Familienzeit, das haben wir gemeinsam gemacht», erinnert sich Andrea Meier. Von der Kirche nach Hause gab es lebhafte Diskussionen. «Kirche war bei uns immer auch politisch», erinnert sie sich.

Andrea Meier an der Abschlussveranstaltung des Forums Offene Katholizität
Andrea Meier an der Abschlussveranstaltung des Forums Offene Katholizität

Als Andrea Meier zwölf Jahre alt war, ist die Familie nach Bolligen in die Berner Agglomeration gezogen. «Genau der richtige Zeitpunkt», findet Andrea Meier rückblickend. In Bolligen gab es ein grosses Oberstufenzentrum und die Bahn hatte nur zehn Minuten, um nach Bern zu fahren.

Andrea Meier hat sich der dortigen Cevi-Jungschar angeschlossen. Die Treffen fanden in einem kleinen alten Haus statt, das die Jugendlichen für sich hatten. Sie hat Freundschaften geschlossen und grosse Projekte realisiert: Zirkus, Musicals, Zeltlager. «Wir konnten uns ausleben und wirksam sein.»

Ausflug zur evangelikalen Bewegung

Während der Oberstufe besuchte Andrea Meier Gottesdienste von verschiedenen charismatischen Freikirchen. «Die Gottesdienste waren so cool, die vielen jungen Menschen, die Musik, die Professionalität der Veranstaltungen fand ich super.» Die Eltern standen dem Ausflug zur evangelikalen Bewegung kritisch gegenüber. Das habe sie vielleicht sogar darin bestärkt, dort mitzumachen, schmunzelt Andrea Meier. Die moralische Enge, zugespitzt beim Thema Homosexualität, haben der jungen Frau aber bald zu denken gegeben.

Eines Tages kam ein amerikanischer Prediger in die Jugendgruppe, von dem alle begeistert gewesen seien. Andrea Meier hat ihn gefragt, was es für ihn bedeuten würde, wenn sie lesbisch wäre. Die Antwort: «Wenn du Fussball spielen willst, gehst du doch auch nicht zu einem Basketballverein, oder?» Als lesbische Frau wäre sie also nicht willkommen gewesen. Das war der Moment für die die religiös musikalische Teenagerin, sich von dieser Art von Religiosität zu lösen.

Von 1999 bis 2002 besucht Andrea Meier das Literargymnasium Kirchenfeld. «Das war die Zeit meines Lebens.» Die Schule fiel ihr leicht. Sie hatte genügend Zeit für ihre Klarinette, das Jugendsymphonieorchester, die Kulturgruppe, den Chor, die Gottesdienstgruppe der Gemeinde und den Cevi. Russisch und Religion waren ihre Schwerpunktfächer.

Kontakt mit Menschen ausserhalb der eigenen Blase

Mit 17 Jahren besuchte Andrea Meier einen Firmkurs. In dieser bunt zusammengewürfelten Gruppe sei ihr bewusst geworden, dass die Kirche eine Plattform biete, um mit ganz verschiedenen Menschen in Kontakt zu kommen. «Für mich ist bis heute wichtig, dass die Kirche die Milieus durchbricht und Begegnungen ausserhalb der eigenen Blase möglich macht», sagt Andrea Meier.

2003 beginnt sie in Freiburg Theologie und russische Literatur zu studieren. Ihre kirchennahen Eltern blickten skeptisch auf ihre Studienwahl, sagt Andrea Meier. Sie hätten für ihre Tochter wenig Chancen in der katholischen Kirche gesehen.

Valentin Beck, Raphael Rauch, Andrea Meier und Martin Föhn sind unterwegs als "Theologisches Quartett"
Valentin Beck, Raphael Rauch, Andrea Meier und Martin Föhn sind unterwegs als "Theologisches Quartett"

2006 hat Andrea Meier zwei Semester in Tübingen studiert. Regina Ammicht Quinn lehrte am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften. Von ihrer Ethik war Andrea Meier begeistert. Auch der Religionspädagoge Albert Biesinger beeindruckte die Studentin mit einer Theologie, die im Alltag der Familien verwurzelt ist. «Die Dozentinnen und Dozenten sprachen nicht nur über Theologie, sondern waren auch Kirchenmitglieder und lebten ihren Glauben.» Gewohnt hat Andrea Meier in dieser Zeit in einer grossen genossenschaftlich organisierten Wohngemeinschaft. «Das war für mich eine Offenbarung, gemeinschaftlich leben, das wollte ich von da an.»

Das «richtige» katholische Ding

In dieser Zeit hat Andrea Meier in Oberschwaben das erste Mal eine Fronleichnamsprozession gesehen. «Das richtige katholische Ding habe ich vorher gar nicht gekannt.» In ihrem Katholizismus sei der Bus von Dorf zu Dorf gefahren und habe die paar wenigen Katholikinnen und Katholiken für den Religionsunterricht abgeholt und zur nächsten grösseren Ortschaft gefahren – Diaspora-Katholizismus halt.

Zurück in Bern zog die Studentin mit ihrem zukünftigen Mann, mit dem sie seit Teenagertagen liiert ist, in einer grossen Wohngemeinschaft zusammen. 2010 beendete sie ihr Studium mit einer Lizenziatsarbeit zu kirchlicher Jugendarbeit. Das war die Theorie zur Praxis. Zwischen 2007 und 2011 arbeitete die Theologin in Münsingen bei der ökumenischen Jugendarbeit «echo».

Das kirchliche Jugendangebot "Jenseits im Viadukt" in Zürich-West
Das kirchliche Jugendangebot "Jenseits im Viadukt" in Zürich-West

2011 folgt ein kurzer Abstecher nach Zürich, sie leitet das «jenseits IM VIADUKT» der katholischen Kirche im Kanton Zürich. 2012 wird Andrea Meier Leiterin der Fachstelle Kinder und Jugend der Katholischen Kirche Region Bern. Dort arbeitet sie als einzige Theologin mit soziokulturellen Animatorinnen und Animatoren zusammen. Von ihnen habe sie gelernt, dass ihre Arbeit bedarfs- und adressatenorientiert sein müsse. Letztlich gehe es darum, die eigene Arbeit überflüssig zu machen.

Die Gemeinde macht Kirche

«Dinge auf die Beine stellen, die dann ohne mich weiterlaufen, ist mein Ziel auch in der Kirche», sagt die Geschäftsführerin der Offenen Kirche Bern. Vom Modell vieler Kirchgemeinden, in denen ein Hauptverantwortlicher alles macht und die Gemeinde hilft, hält sie wenig. «Ich möchte die Perspektive wechseln und schlage vor: die Gemeinde macht Kirche und wir unterstützen sie dabei.»

Andrea Meier verlässt gern die eigene Komfortzone. «Ich bin stressresistent, kann viele Eindrücke aufs Mal verarbeiten und habe mehr Energie, als ich für mich persönlich brauche», sagt sie von sich selbst. Sie müsse sich nichts beweisen, aber das Gras auf der anderen Seite des Zaunes probiere sie gerne und sie liebe es auf vielen Hochzeiten zu tanzen.

Kampf fürs Frauenpriestertum

«Der Kampf für das Frauenpriestertum ist nicht mein Kampf», sagt Andrea Meier. Die Stellung der Frau in der katholischen Kirche finde sie dermassen absurd, dass sie dagegen nicht kämpfen könne. Sie versteht alle Frauen, die der katholischen Kirche frustriert den Rücken kehren. Es sei schon etwas absurd, sich als Frau so stark für die katholische Kirche zu engagieren. «Aber ich kann in meinem Umfeld sein wie ich bin und machen, was mir wichtig ist.» Insofern stimmten die Rahmenbedingungen für sie, fasst Andrea Meier zusammen.

Andrea Meier diskutiert mit Raphael Rauch.
Andrea Meier diskutiert mit Raphael Rauch.

Ihr wichtigstes feministisches Thema ist die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf. 2013 ist Andrea Meier zum ersten Mal Mutter einer Tochter geworden. 2016 kam ihr Sohn zur Welt. «Vom ersten Tag an war mir und meinem Mann klar, diese Kinder sind von uns beiden, wir sorgen gemeinsam für sie», sagt Andrea Meier über ihr Familienmodell. Care-Arbeit, Rollenbilder, Arbeitszeitmodelle, Zuständigkeiten würden immer wieder verhandelt. Das führe zu Auseinandersetzungen, sei aber die Basis, auf der ihre Familie funktioniere.

Zudem kann sich die Familie auf ein dichtes soziales Netz verlassen: Grosseltern, Gotte, Wohngemeinschaft und Freunde helfen die Kinder grosszuziehen. «Wir könnten das nicht alleine», sagt Andrea Meier.

«Ich fühle mich verpflichtet, meinen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten.»

Andrea Meier bezeichnet sich als Aktivistin. «Die Welt ist nicht gerecht genug, nicht inklusiv genug. Sie entspricht nicht meinem Ideal von einem guten Leben für alle. Ich fühle mich verpflichtet, meinen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten.»

Ausserdem liebt Andrea Meier Organisationskomitees. Gebe es irgendwo ein OK, bringe sie sich ein. Sei das für die «Tour de Lorraine», das Solidaritäts- und Widerstandsfest in Bern oder für die Wohnbaugenossenschaft «Warmbächli», in die sie nach den Weihnachtstagen mit ihrer Familie einziehen wird.

Kein Bedürfnis nach Ruhe und allein sein

Ruhe findet Andrea Meier beim Yoga oder beim Joggen. Manchmal überwindet sie sich und macht Exerzitien. «Stille erdet mich und ich bekomme Rückmeldungen, dass mir das gut tut.» Sie selbst verspüre aber kein grosses Bedürfnis, alleine zu sein und Ruhe zu haben.

Andrea Meiers Mission: «Wenn das Evangelium eine Botschaft sein soll für alle Menschen, wenn es das ist, wofür ich brenne, dann wünsche ich mir, dass sich mehr Menschen dafür interessieren.» Gleichzeitig versteht sie, dass man sich von vielen Angeboten der Kirche nicht angezogen fühle. Es ginge ihr oft ähnlich.

Keinen Dienst nach Vorschrift

Andrea Meiers Vision: «Ich möchte in der Kirche einen Ort schaffen, an dem ich mich zurechtfinde, wo ich sein kann, wie ich bin und der mich ein bisschen verzaubert. Ich möchte Menschen um mich herum, die nicht einfach Dienst leisten, sondern leben, was sie verkünden, ohne dass ich ideologisch irgendwo hin gezwungen werde.»

Andrea Meier ist römisch-katholische Radiopredigerin.
Andrea Meier ist römisch-katholische Radiopredigerin.

Die Tradition der Kirche wiege manchmal schwer, sei aber auch bedeutungsvoll. Zuletzt habe sie dies wieder erlebt bei der Predigtvorbereitung zum Gottesdienst am Flüchtlingstag im Juni 2021. Die Gedenkaktion «Beim Namen nennen» erinnert an die Menschen, die beim Versuch übers Mittelmeer nach Europa zu kommen ihr Leben verloren haben. «Was soll man zu diesem himmelschreienden Affront gegen die Menschenwürde sagen?»

«Wir müssen alles daran setzen, das Versprechen, dass niemand ertrinken muss, einzulösen.»

Eine Antwort fand Andrea Meier in der Bibel bei Jesaja. «Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, wenn du ins Wasser gehst, wirst du nicht ertrinken, wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht verbrennen», zitiert die Theologin die Stelle. Dieses dreitausend Jahre alte Versprechen, dass Menschen nicht ertrinken und in Flammen umkommen sollen, ist eine uralte Wahrheit und hat volle Gültigkeit. «Wir müssen alles daransetzen, dieses Versprechen einzulösen.»

Predigen ist für Andrea Meier ein kommunikativer Vorgang. Oft gestaltet sie Predigten dialogisch, in Anwesenheit der Menschen ergäbe sich vieles von selbst. Ab Februar wird Andrea Meier am Radio predigen. Dann bleibt ihr nur sich vorzustellen, wie 120’000 Menschen ihr zuhören.

An der Fassade der Heiliggeistkirche hängen Hunderte Namen von Flüchtlingen.
An der Fassade der Heiliggeistkirche hängen Hunderte Namen von Flüchtlingen.

Aber vorerst feiert Andrea Meier mit ihrer Familie Weihnachten wie jedes Jahr. Auf dem Berner Bahnhofplatz in einem Lichtermeer aus 10’000 Kerzen in einer grossen Gemeinschaft. Eingeladen dazu sind alle Menschen, die sich verzaubern lassen möchten.


Andrea Meier, Leiterin der Fachstelle Jugend der Katholischen Kirche Region Bern | © Vera Rüttimann
4. Januar 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 7 Min.
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