Selfie mit Glocke und Schutzmaske: Besucher am Glockenaufzug in Dietlikon.
Schweiz

St. Michael hat endlich Glocken

Bislang fehlte der katholischen Kirche im zürcherischen Dietlikon ein Turm. Am Samstag haben rund 100 Schülerinnen und Schüler dessen Glocken aufgezogen.

Ueli Abt

Helfer in gelben Westen desinfizierten jedem Besucher sogleich die Hände, alle mussten sich mit Name und Telefonnummer in eine Liste eintragen. Wer keine eigene Maske mitbrachte, bekam eine zur Verfügung gestellt. Die Massnahmen der Organisatoren der Glockenaufzugs-Feierlichkeiten in Dietlikon machten Sinn: Abstand halten war am Samstag auf dem gut besuchten Gelände der Kirche St. Michael in Dietlikon oft unmöglich – und hätte im Rahmen eines solchen Anlasses unter freiem Himmel auch nicht gross Sinn gemacht.

Besucher auf dem Gelände der Kirche St. Michael in Dietlikon.
Besucher auf dem Gelände der Kirche St. Michael in Dietlikon.

Mehrere Hundert Personen waren für den Festanlass zusammengekommen. Rund hundert Schulkinder aus Wangen, Brüttisellen und Dietlikon beteiligten sich aktiv am Aufzug.

Mit Pferdegespann durchs Gebiet der Pfarrei

Dietlikon hat Möbelhäuser, Elektronikgeschäfte und ein Multiplexkino in einer Industrie- und Einkaufszone. Hier werden Sprudelsüssgetränke für die halbe Schweiz hergestellt. Dietlikon ist aber auch ein Dorf geblieben. Es pflegt das Vereinsleben, wie aus einer bemalten Betonwand gegenüber dem Bahnhof hervorgeht.

Viele halten den besonderen Moment fotografisch fest.
Viele halten den besonderen Moment fotografisch fest.

So passten denn eben auch die beiden Pferdegespanne mit den reich und festlich mit Blumenschmuck dekorierten Glocken bestens. Sie fuhren nach einer Tour mit Zwischenstationen bei weiteren Kirchen auf dem Gebiet der Pfarrei in den Gemeinden Dietlikon und Wangen-Brüttisellen auf dem Festgelände vor.

«Ein Kirchturm ist Teil unserer christlichen Kultur.»

Richard Pfister, Kirchenpfleger

1970, als die katholische Kirche St. Michael fertig gebaut war, stand hier noch kein Kirchturm. Ein solcher von 28 Meter Höhe war aber bereits geplant und bewilligt gewesen. «Die Gründe für den Bauverzicht sind uns nicht bekannt», sagte Kirchenpfleger und Baukommissions-Präsident Richard Pfister im Rahmen seines Rückblicks auf die vergangenen Jahre und Monate vor den Anwesenden.

Noch stehen die Glocken auf dem Pferdewagen.
Noch stehen die Glocken auf dem Pferdewagen.

«Ein Kirchturm ist Teil unserer christlichen Kultur», so Pfister weiter. In einer Abstimmung sei der Wunsch nach einem Kirchturm klar zutage getreten. Im Frühling 2017 habe dann eine Arbeitsgruppe innerhalb der Kirchenpflege das Projekt aufgegleist und dazu zunächst «einige bestehende Kirchtürme angeschaut».

Es entstand ein 18 Meter hoher Turm mit offener Glockenstube.
Es entstand ein 18 Meter hoher Turm mit offener Glockenstube.

Architekt Pierre Ilg entwarf darauf einen 18 Meter hohen Turm mit einer 5,5 Meter hohen offenen Glockenstube. «Heute vor einem Jahr haben uns die Bewilligung und Einsprachen beschäftigt», führte Pfister weiter aus. Im Februar dieses Jahrs habe man dann mit dem Bau des Fundaments beginnen können, dank des guten Frühlingswetters sei der Turm rasch in die Höhe gewachsen.

Ein Giesserei-Mitarbeiter bereitet eine der Glocken zum Hochziehen vor.
Ein Giesserei-Mitarbeiter bereitet eine der Glocken zum Hochziehen vor.

Bevor die Glocken aufgezogen wurden, hatten die Schulkinder Gelegenheit, die von Bildhauer Ernesto Ghenzi gestalteten Verzierungen aus der Nähe zu betrachten – ehe diese dann zur nur per Leiter erreichbaren Glockenstube gezogen wurden.

Friede, Glaubwürdigkeit, Schöpfung, Weltkirche

Ghenzi berichtete vor den Anwesenden vom Entstehungsprozess der Glockenzier. Als Kind habe er miterlebt, dass sein Vater fürs Kloster Otmarsberg in Uznach eine solche Gestaltung der Bronzeglocken entwarf. «Damals wusste ich nicht, dass ich das auch einmal ausführen dürfen würde.»

Bildhauer Ernesto Ghenzi gestaltete die Glockenzier.
Bildhauer Ernesto Ghenzi gestaltete die Glockenzier.

Ghenzi hatte für jede der vier Glocken ein bestimmtes Thema vorgegeben bekommen. Zuerst habe er sich der kleinsten Glocke mit dem Thema «Frieden» gewidmet und sich für das Motiv der Friedenstaube entschieden. Bei der zweiten Glocke habe er das Thema «Schöpfung» durch die Schöpfungsgeschichte illustriert, mit je einem Motiv für jeden der sieben Tage. «Glaubwürdigkeit», wie das Thema der drittgrössten Glocke lautet, habe etwas mit Glaube, Wahrheit und Würde zu tun. «Wenn wir von Zweifeln befallen sind, finden wir Halt im Glauben», sagte er. Mit zwei Gesichtern auf einer Weltkugel habe er die Zerrissenheit heutiger Menschen in Zeiten von Fake News darstellen wollen.

Es geht los: Die jüngsten Schulkinder dürfen beim Hochziehen der kleinsten Glocke zupacken.
Es geht los: Die jüngsten Schulkinder dürfen beim Hochziehen der kleinsten Glocke zupacken.

Probehalber angeschlagen

Die grösste Glocke mit dem Thema Weltkirche sei seine Abschlussarbeit gewesen. Nach seiner Auffassung umfasst dies alle Religionen. «Ich hoffe, dass der Klang der Glocken uns an diese Themen erinnert», schloss Ghenzi.

Pfarreiadministrator Luis Capilla bei der Segnung der Glocken.
Pfarreiadministrator Luis Capilla bei der Segnung der Glocken.

Gemäss Programm wird das Glockengeläut erstmals im September zu hören sein. Doch wie es sich gehörte, schlug ein Angestellter der mit der Herstellung beauftragten Aarauer Giesserei Rüetschi die Glocken vor dem Hochziehen mit einem Hammer an, so dass die Glocken doch ein erstes Mal hörbar waren. Dies, nachdem Pfarreiadministrator Luis Capilla diese gesegnet hatte.

Vier Glocken, vier Teams - in einer Art Rundlauf und mit einem Flaschenzug ziehen die Kinder die Glocken gemeinsam hoch.
Vier Glocken, vier Teams - in einer Art Rundlauf und mit einem Flaschenzug ziehen die Kinder die Glocken gemeinsam hoch.

Selfie mit Glocke und Schutzmaske: Besucher am Glockenaufzug in Dietlikon. | © Ueli Abt
5. Juli 2020 | 11:09
Lesezeit: ca. 3 Min.
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Glockenaufzüge sehr selten geworden

Warum die Dietliker Kirche Anfang der 70er-Jahre ohne Kirchturm gebaut wurde, dürfte im weiteren Sinne auf den damligen Zeitgeist in der Kirche zurückgehen, wie eine Spurensuche im Internet ergibt. Zum einen war gemäss dieser Interpretation die damalige katholische Minderheit darum bemüht, sich baulich eher unauffällig ins Quartier einzufügen. Ausserdem soll das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) für einen Impuls zur Rückbesinnung auf die Bibel gesorgt haben: demgemäss soll ein repräsentativer Kirchenbau weniger im Vordergrund gestanden sein.

So ganz reicht diese Erklärung nicht aus, schliesslich war gemäss Dietliker Kirchenpflege der Turm schon in der Baueingabe vorgesehen. Damals fehlte schlicht das Geld, berichtete nau.ch, gestützt auf einen Bericht des regionalen Portals Zueriost.

Glockenaufzüge sind hierzulande selten geworden – in den vergangenen Jahrzehnten sind kaum mehr neue Kirchentürme in der Schweiz gebaut worden. Einen Glockenaufzug gab es 2006 in Rheinau. Ein Grossbrand hatte die Glocken der Bergkirche St. Nikolaus zerstört. (uab)