Katholische Tradition aus Peru auf den Strassen von Zürich: Prozession «Señor de los Milagros» (Herr der Wunder) im Oktober 2019.
Schweiz

SPI beleuchtet zugewanderte «Christentümer»

Das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut befasst sich seit mehreren Jahren mit dem Thema «Migration». Nun hat es mit einer zweiteiligen Studie einen weiteren «Meilenstein» gesetzt, wie es am Donnerstag bei der Präsentation des Nationalfondsprojekts in Zürich hiess. Darin geht es um christliche Migranten, die bislang in der Religionsforschung wenig Beachtung fanden.

Barbara Ludwig

«Offenbar haben wir einen Nerv getroffen mit dem Thema christliche Migration», sagte Oliver Wäckerlig, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI), zu Beginn der Vernissage der beiden neuen Publikationen vor zirka 35 Personen. Migration habe sich als dauerhaftes Phänomen offenbart, sei Teil unserer Lebensweise geworden, stellte er fest. «Wer das versteht, ändert seinen Blick auf Migration.»

Ins Blickfeld des Forschungsinstituts geraten ist das Thema seit längerem. Vor sechs Jahren veröffentlichte das SPI ein Verzeichnis aller christlichen Migrationsgemeinden. Damit sei ein «erster Meilenstein» gesetzt worden, sagte Wäckerlig in einem kurzen Überblick. Ein weiterer war 2016 die Studie «Kirchen in Bewegung. Christliche Migrationsgemeinden in der Schweiz». Mit der vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Doppelstudie von Eva Baumann-Neuhaus und Simon Foppa habe das Institut nun einen «dritten Meilenstein» gesetzt, so Wäckerlig.

Forschung über Migration hat Tradition beim SPI: links die beiden neuen Publikationen.
Forschung über Migration hat Tradition beim SPI: links die beiden neuen Publikationen.

Zugewanderte Christentümer bislang unterbelichtet

Bald nach ihrem Arbeitsbeginn vor fast zehn Jahren beim SPI sei ihr klar geworden, dass es im Bereich der christlichen Migration Forschungslücken gebe, erzählte die Ethnologin und Religionswissenschaftlerin Eva Baumann-Neuhaus bei der Präsentation. Was interessierte, waren als fremd wahrgenommene Religionen, insbesondere der Islam.

Ausgeblendet wurde dabei die Tatsache, dass die Mehrheit der Zuwanderer in der Schweiz Christen sind und dass mit diesen Menschen «unterschiedliche Christentümer» in die Schweiz kämen. «Die christliche Migration verändert nicht nur die religiöse Landschaft der Schweiz, sondern auch das Gesicht der christlichen Kirchen beziehungsweise Religionsgemeinschaften», so die Forscherin.

Zwei Seiten von Religion im Fokus

Eva Baumann-Neuhaus hat die individuelle Religiosität christlicher Migranten erforscht.
Eva Baumann-Neuhaus hat die individuelle Religiosität christlicher Migranten erforscht.

Eva Baumann-Neuhaus und ihr Kollege Simon Foppa, ebenfalls Religionswissenschaftler, wollten herausfinden, welche Bedeutung das Religiöse im Leben christlicher Migranten spielt und zwar insbesondere bei der Bewältigung ihrer Migrationserfahrungen, wie Baumann-Neuhaus sagte. Dabei habe man auf zwei Dimensionen des Religiösen fokussiert: auf die individuelle Religiosität und die religiöse Gemeinschaft, also auf den persönlichen Glauben und die soziale Seite der Religion.

«Der Austausch mit Leuten, die so gläubig sind wie ich, fehlt mir.»

Beide Wissenschaftler lassen die Migrantinnen und Migranten aus Spanien und Lateinamerika – auf die sich die Doppelstudie konzentriert – in Interviewausschnitten ausgiebig zu Wort kommen. Baumann-Neuhaus, wenn sie die Religion als biografische Ressource untersucht, und Foppa, wenn er der sozialen Unterstützung in christlichen Migrationsgemeinden nachgeht. Ein Muster, zitiert von Baumann-Neuhaus: «Ich bin traurig, weil mein Glaube hier nicht gelebt wird, wie ich gedacht habe. Der Austausch mit den Leuten, die so gläubig sind wie ich, der fehlt mir…»

Glaube kann «empowernde Kraft» entfalten

In ihrer Untersuchung kommt Baumann-Neuhaus zum Schluss, dass der Glaube für Migranten zu einer Ressource für die Bewältigung von «Brucherfahrungen» werden kann. Die persönliche Religiosität könne «gerade in Zeiten der Veränderung, Unsicherheit und Ungewissheit, aber auch der Erfahrung des Unverfügbaren im Leben, eine ordnungsgenerierende, stabilisierende und empowernde Kraft entfalten», stellte die Wissenschaftlerin vor Kirchenvertretern, Personen aus der Forschung sowie weiteren Interessierten fest.

Eine Typologie – wie Menschen Migration verarbeiten

Sie hat zudem wiederkehrende Muster entdeckt, die sich zu vier Typen verdichten lassen. Diese Typen fassten Menschen zusammen, die ihre Migrationserfahrungen auf ähnliche Weise verarbeiteten. Freilich handle es sich dabei um «soziologische Konstruktionen», da sich Individuen nie völlig in einen Typ pressen liessen, erläuterte Eva Baumann-Neuhaus und stellte zwei der vier Typen kurz vor.

«Sie vertrauen darauf, dass Gott einen Plan hat für ihr Leben.»

Beim sogenannten transformativen Typ ist ein Bekehrungserlebnis zentral, das sowohl den Bruch als auch einen Neuanfang umfasst. Das Bekehrungserlebnis wird für ihn beispielhaft für alle späteren Erlebnisse von Brüchen. «In ihnen kann er Gott erfahren als einer, der Brüche zumutet, um Neuanfänge zu ermöglichen», so die Forscherin. Seine Biographie versteht dieser Typ als Prozess des Reifens und des Hineinwachsens in die göttliche Bestimmung. «Die Betroffenen vertrauen darauf, dass Gott einen Plan hat für ihr Leben.»

Sicheres Territorium in der Fremde

Der restitutive Typ hingegen empfindet die Brüche, die mit der Migration einhergehen, als Irritationen, so Baumann-Neuhaus. Dieser Typ stammt oft aus einem konfessionell geprägten Milieu und erinnert sich an die Zeit vor der Auswanderung – «eine Zeit, wo das Religiöse und der Alltag nicht auseinanderklafften». Danach sehnten sich Betroffene zurück. In der Schweiz finden sie die vertraute Ordnung wieder im Schutz der religiösen Gemeinschaft. Religiosität sei bei diesen Menschen stark über die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder einer Konfession definiert, die ihnen zu einem «sicheren Territorium» im säkularen Umfeld werde, erklärte Baumann-Neuhaus.

Migranten verlieren soziales Umfeld

Gläubige der spanischsprachigen Mission feiern Palmsonntag in der Kirche St. Peter und Paul in Zürich.
Gläubige der spanischsprachigen Mission feiern Palmsonntag in der Kirche St. Peter und Paul in Zürich.

Simon Foppa stellte in seinem Teil der Untersuchung fest, dass die meisten Befragten die Migration in die Schweiz als Herausforderung erlebten. Das hänge unter anderem damit zusammen, dass Migranten ihr soziales Umfeld aus der Heimat nicht mitnehmen können, sagte der Wissenschaftler bei der Präsentation des zweiten Buchs. Gute zwischenmenschliche Beziehungen seien jedoch wichtig.

Simon Foppa wollte wissen, welche Bedeutung religiöse Migrationsgemeinden für die Migranten haben.
Simon Foppa wollte wissen, welche Bedeutung religiöse Migrationsgemeinden für die Migranten haben.

Migrantinnen und Migranten sind gleich mit einer ganzen Reihen von Herausforderungen konfrontiert, darunter sprachliche und kulturelle, aber materielle, psychologische und religiöse. Als Folge dieser Herausforderungen sehnten sie sich unter anderem nach einem «sozialen Umfeld, das ihnen dabei hilft, diese Herausforderungen zu bewältigen», sagte Foppa.

Migrationsgemeinden erfüllen spezifische Bedürfnisse

Dieses Umfeld bietet sich ihnen nun in Form religiöser Migrationsgemeinden. «Religiöse Migrationsgemeinden sind oft genau auf diese Bedürfnisse von Migranten ausgerichtet», so der Forscher. Sie stellten Zuwanderern Unterstützung in vielerlei Form zur Verfügung: materielle Hilfe, Hilfe durch Information, Geborgenheit, spirituelle Unterstützung, Gemeinschaft. Ihr Vorteil: Sie bestehen selbst aus Migranten mit ähnlichen Erfahrungen.

Schweizer leben Freundlichkeit «passiv»

Simon Foppa ist bei seiner Forschung auf zwei Typen von Menschen gestossen, die beim Prozess der Integration in eine religiösen Gemeinschaft eine wesentliche Rolle spielen, wie er weiter ausführte. Da gebe es zum einen die Türöffner, die aktiv auf neue Besucher zugingen und so einen ersten Kontakt zur Gemeinde ermöglichten. Sie seien in Migrationsgemeinden deutlich häufiger anzutreffen als in vielen Schweizer Gemeinden.

Er vermutet, der Grund könne darin liegen, dass Schweizer Freundlichkeit «eher passiv leben»: «Wir lassen anderen gerne ihren Personal Space.» Viele Zuwanderer kämen hingegen aus Ländern, in denen Freundlichkeit als etwas Aktives verstanden werde. Was bedeutet: Der Gastgeber muss aktiv auf neue Menschen zugehen, damit sie sich aufgenommen fühlen.

Von grosser Bedeutung für Migranten sind laut Foppa zudem sogenannte «soziale Rezeptoren». Dies seien Menschen, die mit den Neulingen tiefergehende soziale Beziehungen eingehen. Vielen Migranten fehlte gerade aufgrund der Migration diese «qualitativ gehaltvollen» Beziehungen.

Migrationsgemeinden schneiden besser ab als Schweizer Gemeinden

Damit Menschen Anschluss an eine Gemeinde finden, braucht es aber noch mehr als Türöffner und soziale Rezeptoren, stellte der Religionswissenschaftler fest. Und zwar sollten die Person, die Anschluss sucht, und die betreffende Gemeinde einen ähnlichen soziokulturellen Hintergrund und ein ähnliches Weltbild aufweisen.

Obschon die untersuchten spanischsprachigen Christen in Bezug darauf sehr heterogen seien, gelinge Zuwanderern der Anschluss in Migrationsgemeinden immer noch besser als in Schweizer Gemeinden. Die kulturellen und weltanschaulichen Unterschiede seien dort einfach geringer. «Gerade das ist die grosse Stärke der Migrationsgemeinden», folgerte Foppa.

Glaube in Migration. Religion als Ressource in Biographien christlicher Migrantinnen und Migranten, Eva Baumann-Neuhaus, Edition SPI, 2019.

Kirche und Gemeinschaft in Migration. Soziale Unterstützung in christlichen Migrationsgemeinden, Simon Foppa, Edition SPI, 2019.

Katholische Tradition aus Peru auf den Strassen von Zürich: Prozession «Señor de los Milagros» (Herr der Wunder) im Oktober 2019. | © zVg
7. Dezember 2019 | 14:58
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