Spätestens morgen

Gedanken zum 1. Januar 2017 – Neujahr (Lukasevangelium, Kapitel 2, Verse 16-21)

Jacqueline Keune*

Als Kind hat es gut und gern drei Jahre gedauert, bis wieder mal Weihnachten war… Und heute, 50 Jahre später? – Schon wieder Geburtstag, schon wieder Jahrzeit, schon wieder Herbst, schon wieder heisse Suppe ums Feuer an Heiligabend im Hof des Quartiertreffs und schon wieder ein neues Jahr.

Oder vielleicht eher eine neue Auflage des alten Jahres, eine weitere Strophe des vertraut-fremden Liedes. Denn spätestens morgen werden die Tausenden von Cartoneros in Buenos Aires wieder in den Müllbergen der Stadt zwischen Kartoffelschalen und Pizzaschachteln nach Verwertbarem suchen, mit dem sie den Lebensunterhalt für ihre Familien bestreiten können. Spätestens morgen wird wieder einer eine Bombe in einem Auto zünden, neben dem Kinder mit einem alten Sandeimerchen Fussball spielen. Und spätestens morgen wird wieder einer das Tau eines hoffnungslos überladenen Bootes losmachen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Aber spätestens morgen werden Hirten auch wieder Gott rühmen und preisen für das, was sie an Hoffnung gehört und geschaut haben. Spätestens morgen wird ein Mensch auch wieder den zynischen Parolen ins Wort fallen, den grässlichen Hustenanfall des schwer Lungenkrebskranken mit aushalten, den Untröstlichen an einem Grab einen Horizont aufreissen und der Frau in Hindelbank einen langen Brief schreiben.

Und spätestens morgen werden sich wieder Menschen treffen, die Alternativen zu einer Konsum-Gesellschaft entwickeln und vorleben, die die Vernunft eines Propheten Jesaja mit seinen umgeschmiedeten Schwertern der Unvernunft einer kapitalistischen Weltunordnung entgegenhalten, die sich die Flügel ihrer Träume nicht von Zwängen und Zwecken stutzen und sich die Zeichen der Zeit von den Armen dieser Welt deuten lassen.

Machen wir uns doch mit ihnen auf den Weg in ein menschlicheres Jahr, in eine gerechtere Welt – mit Zorn, mit Trauer, mit Hoffnung im Herzen und einem Stern vor Augen.

An jedem Morgen kann Neujahr sein, an jedem Morgen ein neuer Anfang. Es braucht oft so wenig.

«Mehr nicht. / Eine Kerze ins Fester stellen / bei Anbruch der Nacht. / Die Läden nicht schliessen, / die Türen nur anlehnen, / dass der Morgen dich findet.» (Sabine Nägeli)

*Jacqueline Keune, 55, ist freischaffende Theologin und lebt in Luzern.

31. Dezember 2016 | 08:00
Lesezeit: ca. 1 Min.
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