Jörg Stolz, Professor für Religionssoziologie
Schweiz

«Säkularisten sind ältere, hoch gebildete, politisch links stehende Männer»

Lausanne, 2.12.17 (kath.ch) «Säkulare in der Schweiz» lautet der Titel eines aktuellen Forschungsprojekts. Im Interview mit kath.ch erläutert Jörg Stolz, Professor für Religionssoziologie an der Universität Lausanne, erste Ergebnisse. 

Sylvia Stam

Sie arbeiten an einer Studie über Säkulare in der Schweiz. Wie kam es zu dieser Studie?

Jörg Stolz: Konfessionslose sind vermehrt im Blick der Wissenschaft, weil diese Gruppe stark wächst. Bislang hatte man in der Religionssoziologie und -wissenschaft vor allem die verschiedenen Religionen angeschaut. Wir wollten daher ein Projekt über Säkulare und über organisierte Säkulare zu machen, die wir Säkularisten nennen.

Erklären Sie diesen Unterschied zwischen Säkularen und Säkularisten genauer.

Studie «Säkulare in der Schweiz» | © Jörg Stolz

Stolz: Wir nennen jemanden säkular, der von sich sagt, er sei Atheist oder gar nicht religiös oder beides. Säkularisten sind Personen, die sich einer Organisation anschliessen, die säkularistische Ziele hat, beispielsweise die Freidenker-Bewegung. Das heisst etwa, die Religion in der Öffentlichkeit zu kritisieren oder für eine Trennung von Staat und Kirche einzutreten. Sehr viele Leute sind säkular, etwa 22 Prozent, während nur sehr wenige, nämlich 0,024 Prozent, Säkularisten sind.

 

Was sind für Sie bislang die wichtigsten Resultate?

Stolz: Ein erstes Hauptergebnis ist die Einsicht, dass die Säkularisten eine erstaunlich kleine Gruppe mit einer grossen medialen Aufmerksamkeit sind: Nur 2000 Menschen in der Schweiz bewirken erstaunlich viel in den Medien. Wir haben weiter festgestellt, dass die Säkularen nicht mit einer religiösen Gruppe zu vergleichen sind. Sie kommen nicht zusammen, um eine säkulare Spiritualität zu entwickeln, sondern ihr Hauptziel ist mediale Aufmerksamkeit.

Wie erreicht eine so kleine Gruppe diese mediale Aufmerksamkeit?

Stolz: Einige Säkularisten sind sehr mediengewandt: Andreas Kyriacou und Valentin Abgottspon beispielsweise. Diese leisten ausgezeichnete Medienarbeit. Daneben gibt es eine Basis, die es zwar wichtig findet, dass das Thema in der Öffentlichkeit behandelt wird, die aber selber nicht sehr aktiv ist.

«Auffallend viele Säkularisten sind Männer.»

Medien folgen ihrerseits der Logik, Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Sobald man über Religion spricht, lädt man einen Katholiken, einen Reformierten, vielleicht einen Muslim und eben einen Freidenker ein. Letzterer soll dann für die Konfessionslosen sprechen.

Studie «Säkulare in der Schweiz» | © Jörg Stolz

Als drittes Hauptergebnis skizzieren Sie ein klares Profil der Säkularisten. Wie sieht dieses aus?

Stolz: Säkularisten sind ältere, hoch gebildete, politisch eher links stehende Männer. Auffallend viele Säkularisten sind Männer.

Wie erklären Sie sich das?

 Stolz:  Allgemein beobachtet man in der christlichen Welt, dass Frauen eher religiös sind als Männer. Aber das allein reicht nicht als Erklärung. Wir suchen weiter…

«Säkularisten rekrutieren mit Erfolg in hoch gebildeten Milieus.»

Und die höhere Bildung von Säkularisten?

Stolz: Höher Gebildete sind in unserer Gesellschaft allgemein eher weniger religiös. Ganz offensichtlich rekrutieren die Säkularisten mit Erfolg innerhalb von hoch gebildeten Milieus.

Studie «Säkulare in der Schweiz» | © Jörg Stolz

Gemäss Ihrer Studie halten über 60 Prozent der Säkularisten Religionen für schädlich. Was ist ihrer Meinung nach schädlich an den Religionen?

Stolz: Viele Säkularisten sind generelle Religionsgegner. Sie denken, dass Religion Menschen intolerant werden lässt und für viele Kriege verantwortlich ist. Säkularisten sind ausserdem der Meinung, religiöse Leute würden sich irren: Sie seien in einer Illusion gefangen und es würde ihnen bessergehen, wenn sie die Realität realistischer betrachten würden.

Am ehesten halten sie den Buddhismus für bereichernd, während alle anderen Weltreligionen, vor allem der Islam, als bedrohlich wahrgenommen werden. Warum wird der Buddhismus positiv bewertet?

Stolz:  Der Buddhismus wird als friedlich und gesundheitsfördernd empfunden, der Zen-Meditation wird eine entspannende Wirkung zugesprochen, der Dalai-Lama ist positiv besetzt. Diese relativ positive Bewertung des Buddhismus findet man aber in der Gesamtbevölkerung generell, die Säkularen und Säkularisten sind hier keine Ausnahme.

Menschen mit Religion sind offensichtlich glücklicher als Säkularisten. Wie kommt das?

Studie «Säkulare in der Schweiz» | © Jörg Stolz

Stolz: Der Unterschied ist nicht sehr gross, aber er ist signifikant. Sehr wichtig für die eigene Zufriedenheit ist die Frage, ob man einen Partner hat und wie gesund man ist. Doch selbst, wenn man diese Faktoren mitberücksichtigt, bleibt der Unterschied. Interessant ist, dass Säkularisten von sich selber sagen, sie seien gottlos glücklich, und die Studie zeigt, dass dem nicht so ist.  Die Gründe für diesen Unterschied sind uns noch nicht ganz klar.

Was bedeuten die Resultate Ihrer Meinung nach für Kirchen? Können sie daraus etwas lernen?

Stolz: Es kann für Kirchen interessant sein zu wissen, was das für Menschen sind, die sich in der Gesellschaft kritisch zur Religion äussern. Unsere Studie durchleuchtet, was hinter diesem Diskurs steht: Was für Werte vertreten diese Menschen? Wie sieht ihre Sozialstruktur aus?

Es gibt ja durchaus gemeinsame Werte zwischen religiösen und säkularistischen Menschen. Am Freidenkerfest, das übrigens im Rahmen des Reformationsjubiläums stattfand, sind Referenten aufgetreten, die sagten: «Humanisten aller Länder, vereinigt euch!» Dazu zählen sie auch religiöse Humanisten.

«Wissenschaft wird nahezu verehrt.»

Wie kam Ihr Vortrag am «Denkfest» der Freidenker an?

Stolz: Er kam gut an! Dieses Publikum ist sehr wissenschaftsaffin, Wissenschaft wird nahezu verehrt. Darum ist man als Wissenschaftler willkommen. Es gab Leute, die ein T-Shirt mit der Aufschrift «Science» trugen. Wissenschaft wird sozusagen an die Stelle von Religion gesetzt.

Wie sind die Resultate der Studie zustande gekommen?

Stolz: Wir kombinieren repräsentative Umfragen mit einer grossen Anzahl vertiefender Interviews sowohl in der Gesamtbevölkerung als auch unter Mitgliedern säkularistischer Organisationen. Bislang liegen nur quantitative Resultate vor; die qualitativen stehen noch aus. Wie wird jemand Säkularist? Verändert sich der Säkularismus im Laufe des Lebens? Sind ältere Menschen aus anderen Gründen Säkularisten geworden als jüngere? Auf solche Fragen erhoffen wir, bis zum Abschluss der Studie 2018/2019 Antworten zu erhalten.

Jörg Stolz ist Professor für Religionssoziologie an der Universität Lausanne.

Jörg Stolz, Professor für Religionssoziologie | © zVg
2. Dezember 2017 | 10:45
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Forschungsprojekt «Säkulare in der Schweiz»

Das Forschungsprojekt ist die erste Studie, welche «Säkulare» in einer repräsentativen Stichprobe sowohl quantitativ als auch qualitativ untersucht. Dabei liegt ein spezielles Augenmerk auf der Unterscheidung zwischen organisierten und nicht organisierten «Säkularen».

Im Zentrum stehen die Fragen: Wie konstruieren «Säkulare» ihre «säkularen Identitäten», wie werden diese Identitäten durch Sozialisierung, soziale Merkmale, soziale Beziehungen oder Organisationen beeinflusst, und unter welchen Bedingungen werden «Säkulare» gesellschaftlich oder politisch aktiv?

Das Projekt wird von einem Forscherteam der Universitäten Lausanne, Bern und Strassburg durchgeführt und vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. Es ist 2015 gestartet und dauert bis 2018. Abschliessende Ergebnisse sind bis 2018/2019 zu erwarten. (sys)