Roger de Weck wurde zum neuen Leiter des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing berufen.
Schweiz

Roger de Weck: «Die europäische Souveränität steht auf dem Spiel»

Roger de Weck (68) leitet künftig den Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing. Im Herbst geht es um Putin, Russland und Europa, wie der frühere SRG-Generaldirektor nach einer Bergwanderung erklärt.

Wolfgang Holz

Sie waren heute auf einer Bergtour unterwegs, Herr de Weck. War das nicht ein bisschen heiss?

Roger de Weck*: Der Berg ruft, der Bergwind erfrischt.

«Es herrscht nicht Kalter Krieg. Sondern Krieg.»

Im November geht es bei Ihrer ersten Tagung in Tutzing gleich um ein heisses Eisen: ein Umdenken in der europäischen und deutschen Ostpolitik. Steht uns ein neuer Kalter Krieg angesichts der heissen russischen Aggression bevor?

De Weck: Es herrscht nicht Kalter Krieg. Sondern Krieg. Ohne Beiwort. Noch kann niemand wissen, was danach sein wird. Doch sowohl über diesen Krieg als auch über ihn hinaus nachzudenken, ist zweckmässig. Heisst es doch in meiner Muttersprache: «Gouverner, c’est prévoir»: regieren heisst antizipieren.

2020 wurde der Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch des Jahres an Roger de Weck verliehen. Paul Lendvai und Ruth Wodak wurden auch ausgezeichnet. Foto: SPÖ/Astrid Knie.
2020 wurde der Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch des Jahres an Roger de Weck verliehen. Paul Lendvai und Ruth Wodak wurden auch ausgezeichnet. Foto: SPÖ/Astrid Knie.

Aber wie kann es überhaupt zum Frieden in der Ukraine kommen?

De Weck: Das weiss ich nicht. Und vorderhand weiss das, vermute ich, niemand. 

«Mich interessieren die Voraussetzungen für Demokratie und Unabhängigkeit, für Freiheit und Frieden.»

Die eine Seite fordert ständig neue Waffen für die Ukraine. Die andere Seite sagt: Gebt Putin, was er will, dann ist zumindest eine Verhandlungsbasis geschaffen. Zu welcher Seite neigen Sie denn?

De Weck: Wenn ich mit Akademiedirektor und Pfarrer Udo Hahn eine Tagung vorbereite, sind unsere Einschätzungen nachrangig – denn wir sind hier Moderatoren. Auf den Widerstreit der Meinungen von Rednerinnen, Panelisten und dem Publikum kommt es an. Mich interessieren die Voraussetzungen für Demokratie und Unabhängigkeit, für Freiheit und Frieden. Diese Voraussetzungen werden nicht geschaffen, indem die Ukraine alleingelassen oder geschwächt wird.

Friedensdemo in Bern.
Friedensdemo in Bern.

Der Politische Club gilt als Seismograf für gesellschaftliche und politische Entwicklungen. Ist es das, was Sie an Ihrer neuen Aufgabe besonders reizt?

De Weck: Ja. Tutzing am Starnberger See ist einerseits ein Ortsname, andererseits ein Markenname, der in Deutschland und international ausstrahlt. Das öffentliche Nachdenken über Skizzen und Konzepte für die Politik von morgen macht seit Jahrzehnten die Tradition des Politischen Clubs aus. Diese Ausrichtung ist so wertvoll wie anerkannt. In einem Wort: Der schönen Aufgabe begegne ich mit Respekt.

«Ökumene ist für mich Alltag. In meinem engsten Kreis gibt es verschiedene Konfessionen.»

Sie sind erst der dritte Katholik unter den nun 17 Leitern. Erfüllt Sie das mit Stolz?

De Weck: Ökumene ist für mich Alltag. In meinem engsten Kreis gibt es verschiedene Konfessionen. Und ja, ich freue mich aufs Zusammenspiel mit einer evangelischen Akademie, die zu den wichtigen Treffpunkten in der Bundesrepublik zählt. Mein Vorgänger war der langjährige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse: ein Ostdeutscher, der auch für das bayerische Tutzing Aussergewöhnliches geleistet hat. Zur jüngsten Tagung über Demokratie kamen der Bundeskanzler, die Bundestagspräsidentin, auch sprach der Vorsitzende des Bundesverfassungsgerichts.

In diesem Schloss am Starnberger See residiert die Evangelische Akademie Tutzing.
In diesem Schloss am Starnberger See residiert die Evangelische Akademie Tutzing.

Was haben Sie sich denn alles vorgenommen als Leiter des Politischen Clubs?

De Weck: Ich bin ein Europäer. Durch und durch. Die europäische Einigung ist eine der Erfolgsgeschichten des 20. und 21. Jahrhunderts. Bei allem Auf und Ab. Deutsches und europäisches Nachdenken zu verknüpfen, wird eines meiner Anliegen sein.

Steht denn Deutschland ein Rückschritt in Sachen Ostpolitik bevor, um an die Tagung im Herbst anzuknüpfen? Schliesslich wurde in der Evangelischen Akademie Tutzing 1963 in einer Tagung des Politischen Clubs Willy Brandts Motto seiner Ostpolitik geboren: «Wandel durch Annäherung».

De Weck: Evident ist, dass die lang verfolgte Ostpolitik der Bundesrepublik und weiter Teile der EU nicht mehr aufgeht. Ein allgemeines Umdenken hat eingesetzt. Aber ebenso selbstverständlich ist es, dass die Europäische Union und Deutschland auch künftig einer Ostpolitik bedürfen. Zum Nachdenken, wie es eines Tages weitergehen könnte – dazu mag die Veranstaltung im Herbst beitragen.

Roger de Weck, noch als SRG-Generaldirektor.
Roger de Weck, noch als SRG-Generaldirektor.

War denn Deutschland im Umgang mit Russland zu naiv in den letzten Jahrzehnten? Stichwort Gas.

De Weck: Die Bundesrepublik hat sich in die Abhängigkeit des Kreml begeben. Nun liegt die Aufgabe darin, an der deutschen und europäischen Unabhängigkeit zu arbeiten. Auch im Sinne dessen, was der französische Staatspräsident Emmanuel Macron schon 2017 in die Diskussion einbrachte: die «europäische Souveränität».

Die EU-Flagge
Die EU-Flagge

Wie sehen Sie diese europäische Souveränität bezogen auf den Konflikt in der Ukraine? Es wird immer so getan, als ob Putin Europa erobern möchte. Deshalb werden schwere Geschütze militärischer Art als auch riesige wirtschaftliche Sanktionen aufgefahren. Was will Putin denn aus Ihrer Sicht?

De Weck: Nach der Tutzinger Tagung kann ich Ihre Frage etwas solider beantworten. Es geht ja darum, im Austausch mit verschiedenen Exponentinnen und Exponenten an einer fundierten, differenzierten Meinung zu arbeiten – Meinung ist ein Prozess. Als Mitorganisator nehme ich nicht vorweg, was die Tagung bringen wird.

«Putin hat den ersten grossen Angriffskrieg auf unserem Kontinent seit 1939 lanciert. Damit ist alles gesagt.»

Aber Sie haben doch sicher als routinierter Journalist auch eine Meinung zu Putin. Wer ist dieser Mann?

De Weck: Putin hat den ersten grossen Angriffskrieg auf unserem Kontinent seit 1939 lanciert. Damit ist alles gesagt.

Und der Westen hat im Umgang mit Russland keine Fehler gemacht?

De Weck: Seit bald 69 Jahren bin ich auf der Welt und weiss um ihre Imperfektion: Es gibt keine Situation, in der niemand Fehler macht. Doch selbst wenn der Westen suboptimal vorgegangen sein sollte, rechtfertigt das in keiner Weise einen Angriffskrieg – zumal einen, wie ihn Putin führt: einen Krieg gegen Zivilisten, gegen das humanitäre Völkerrecht, als sei auch das Kriegsrecht ausser Kraft. Einen Krieg, der darauf angelegt ist, mit vielen zivilen Opfern die Ukraine und ihre Demokratie zu zermürben.

«Freiheit ist kein geringeres Gut als Frieden.»

Es werden aber auch immer mehr Zivilisten Opfer, indem immer mehr Waffen in die Ukraine geliefert werden…

De Weck: Nur so viel: Freiheit ist kein geringeres Gut als Frieden. Darüber hinaus gehe ich ungern auf Ihre Frage ein. Denn hier interviewen Sie mich, als wäre ich bei der Tagung ein Referent und nicht ein Moderator.

Der Renaissance-Brunnen in Innenhof des Schlosses der Evangelischen Akademie Tutzîng.
Der Renaissance-Brunnen in Innenhof des Schlosses der Evangelischen Akademie Tutzîng.

…ich interviewe Sie auch als bekannter Journalist mit grosser politischer Erfahrung. Sie haben ja ein Buch geschrieben mit dem Titel: «Nach der Krise – Gibt es einen anderen Kapitalismus?» Ist die zunehmende Armut in Europa denn nicht das momentan drängendste Problem unserer Zeit – trotz des Ukraine-Kriegs?

De Weck: Herrscht auf unserem Kontinent Krieg, werden Europas andere Probleme deswegen nicht kleiner, sondern tendenziell grösser. Doch wenn ein Angriffskrieg Erfolg hat, wird die Lösung dieser anderen Probleme weiter erschwert. Kurzum: Wenn Frieden Unfreiheit bedeutet, hat Frieden nicht von vornherein den Vorrang. Ohnehin: In Unfreiheit lassen sich die wenigsten Probleme wirklich lösen. Und Defätismus schafft Probleme, statt sie zu bewältigen.

«Eine der Antworten auf den russischen Angriffskrieg ist, dass wir in Europa weniger Energie verbrauchen.»

Wie meinen Sie das?

De Weck: Auf dem Spiel steht die europäische Souveränität: dass sich Europa nicht einschüchtern lässt durch einen Angriffskrieg, durch Wladimir Putin, durch diesen mächtigen Unterstützer der antiaufklärerischen, antidemokratischen, antisozialen und antiökologischen Rechtsextremisten. Weiss sich Europa in dieser existentiellen Frage zu behaupten, kann es sich auch in anderen existentiellen Fragen einigermassen bewähren. Übrigens ist eine der Antworten auf den russischen Angriffskrieg, dass wir in Europa weniger Energie verbrauchen.

* Der Schweizer Journalist Roger de Weck (68) war von 2011 bis 2017 Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG SSR). Er ist Autor des Bestsellers «Nach der Krise – Gibt es einen anderen Kapitalismus?». Der Weck stammt aus Freiburg i.Ü. Die Philosophische Fakultät der Universität Freiburg hat ihm den Ehrendoktortitel verliehen. In den 1990er-Jahren war de Weck Chefredaktor der Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit» und des Zürcher «Tagesanzeigers».


Roger de Weck wurde zum neuen Leiter des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing berufen. | © zVg
26. Juli 2022 | 13:19
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