Jubiläumswallfahrt des Hilfswerks "Kirche in Not" in Einsiedeln, 2017
Schweiz

Politisches Welttheater in Einsiedeln

Einsiedeln, 22.5.17 (kath.ch) Das katholische Hilfswerk Kirche in Not feierte in Einsiedeln am Sonntag seinen 70. Geburtstag. An einem prominent besetzten Podium wurde die «Verantwortung der Religionen im Krieg» debattiert. Während Journalist Ulrich Tilgner die Religionen wortgewaltig von der Schuld lossprach, formulierte der Vertreter des Hilfswerks leise ein Nostra Culpa.

Remo Wiegand

Rund 300 Gäste füllten den grossen Saal des Kongresszentrums «Zwei Raben» in Einsiedeln bis fast auf den letzten Platz: Kirchenvertreter, Polit-Lokalprominenz, treue Spenderinnen und viele ältere, aber auch einige jüngere Politinteressierte. Über dem Podium links eine Vatikan-Fahne, rechts die Schweizerflagge. Alphorn-Töne ertönen zum Einstieg. In diese fröhlich-folkloristische Grundstimmung mischen sich die Sirenenklänge des Krieges in der Welt da draussen.

Optimismus in Zeiten des Terrors

Jan Probst, Geschäftsführer von Kirche in Not Schweiz, erinnerte zum Einstieg an das Wort von Papst Franziskus, wonach «eine Art Dritter Weltkrieg» im Gang sei. Im Irak seien 80 Kirchen zerstört worden, zugleich aber auch 1200 Moscheen. Die Religionen sässen im selben Boot. «Wir setzen uns für die Religionsfreiheit für alle ein», rief Probst kämpferisch-optimistisch in den Saal. Es sind nicht zuletzt die Kriege und die Krise im Nahen Osten, die dem Hilfswerk Kirche in Not seit Jahren steigende Spendeneinnahmen bescheren.

Optimismus versuchten auch die zwei Podiumsteilnehmer aus Ägypten zu verbreiten, die zur Linken von Moderator Martin Spilker sassen. «Wir leben seit 14 Jahrhunderten in Frieden mit den Muslimen», berichtete lächelnd Bischof Samaan, der der kleinen koptisch-katholischen Minderheit Ägyptens vorsteht und auf dem Podium den ursprünglich vorgesehenen Patriarchen Sako aus dem Irak ersetzte. Angesichts der Bedrohung durch islamistische Terroranschläge stünden heute viele Muslime schützend vor christliche Kirchen.

Wir brauchen eine globale Umverteilung von Reichtum.

Der Präsident des Zürcher Muslim-Dachverbands VIOZ, Mahmoud El Guindi, zitierte Ghandi: «Es gibt mehrere Ziele, für welche ich bereit wäre, zu sterben aber keine, für welche ich bereit wäre, zu töten.» Die Fundamentalisten, so die einmütig-interreligiöse Haltung der beiden Ägypter, verstünden den richtigen, den toleranten Islam schlicht falsch. Diese gelte es mit harter Hand zu bekämpfen.

Tilgner als (Unheils-)Prophet

Ulrich Tilgners Kerngeschäft heisst nicht Optimismus. In Einsiedeln spielte der TV-Journalist und Nahostexperte die Rolle des anklagenden Propheten gegen himmelschreiende Ungerechtigkeiten. Binnen 25 Jahre auf sei der Anteil der Christen im Irak von zehn auf ein Prozent gesunken. «Die Saat des Terrorismus ist aufgegangen», so Tilgner. Ein ähnlicher Exodus drohe nun auch Ägypten, das nächste strategische Ziel der Terrormiliz IS.

Der Terror fasse stets in den ärmsten und rückständigsten Gegenden des Nahen Ostens Fuss, nach dem sunnitischen Syrien sei es nun die Sinai-Halbinsel. Die Ökonomie sei das Hauptproblem. «Wir brauchen eine globale Umverteilung von Reichtum», rief Tilgner in den Saal.

Ein Wille dazu sei aber weder in Europa noch in den USA auszumachen, man habe nur den eigenen Profit im Blick. So lasse man auch Saudi-Arabien feige gewähren, das den Islamismus ideologisch und finanziell unterfüttere, aus Rücksicht auf Rüstungsgeschäfte und Ölmillionen-finanzierte Fussballclubs.

Eltern müssen bereit sein, dass ihr Sohn oder ihre Tochter den Andersgläubigen heiratet, wenn sie sich verlieben.

Tilgners lautes Lamento und forsches Infotainment, immer wieder mit Superlativen des Schreckens garniert, bescherte ihm mehrmals bewundernden Szenenapplaus. Daran änderte auch nichts, dass er sich der christlichen Zuhörerschaft bereitwillig als «nicht religiös» offenbarte. Das Publikum fand sich in der entlastenden These des Atheisten gut wieder, wonach die Religionen mit den Kriegen im Nahen Osten ursächlich nichts zu tun hätten.

«Gewalt in uns»

Es war letztlich Tilgner Sitznachbar zu seiner Rechten, der Vertreter von Kirche in Not, der dieser eigenartigen unheiligen Allianz einige Nadelstiche zu versetzen versuchte. «Wir alle haben Gewalt in uns. Es ist ein Akt der Demut vor Gott, dies einzugestehen», bekannte Roberto Simona, Experte für Islam bei Kirche in Not.

Doch sein Glaube motiviere ihn auch dazu, Verantwortung für eine bessere Welt zu übernehmen und für die Freiheit aller einzutreten. Dies fange im Kleinen an: «Es reicht nicht, wenn Muslime und Christen einfach friedlich nebeneinander wohnen. Als Eltern müssen sie bereit sein, dass ihr Sohn oder ihre Tochter den Andersgläubigen heiratet, wenn sie sich verlieben.»

Zwei Wochen danach war mir klar: Das gibt eine Katastrophe.

Simonas expressive Appelle für mehr Mitmenschlichkeit – mit charmantem italienischem Akzent und rudernden Armen – hinderten ihn nicht daran, auch Klartext zu reden: Der Islam habe – «bei aller Liebe» – heute ein Gewaltproblem, so wie in früheren Zeiten das Christentum. Simona warb bei den Muslimen für den Gang aus der Opferhaltung heraus und für die existenzielle Annahme der inneren Ambivalenz: Das Gewaltpotential der eigenen Religion sehen, um dadurch hindurch den Weg der Toleranz und Liebe zu gehen.

Innere und äussere Ambivalenzen

Auch Tilgners Worte liefen immer wieder auf Ambivalenzen hinaus. Der Exodus der Christen aus dem Nahen Osten: Auch eine Folge der gut gemeinten europäischen Hilfsbereitschaft, die Christen relativ bereitwillig Asyl gewährten. Die immer wieder angemahnte Bildungsoffensive im Nahen Osten (teilweise, wie im Iran, auch praktiziert): Fördert den Frieden – und die Flucht, weil die Menschen plötzlich Infos über Europa zur Verfügung hätten und sähen, dass es dort Jobs gebe, die bei ihnen fehlten.

Tilgners äussere Ambivalenzen schienen unüberbrückbar: Was man auch tut, der Schuss geht nach hinten los. Der Journalist verriet eine kulturpessimistische Hoffnungslosigkeit. Als mögliche Erklärung nannte Tilgner freimütig, dass ihn die missglückte US-Intervention 2003 in den Irak persönlich tief enttäuscht hatte. «Da dachte ich zunächst, jetzt ist Saddam Hussein gestürzt, jetzt wird alles besser. Zwei Wochen danach war mir klar: Das gibt eine Katastrophe.»

Es gibt einen Komplott gegen unser Land.

Und die Lage in Ägypten? Deren Vertreter auf der anderen Seite des Podiums warben zuletzt einmütig für ihren autokratischen Präsidenten Abd al-Fattah as-Sisi. Der gemeinsame Feind des Terrorismus verbinde und sammele die verletzlichen Religionen um einen starken Führer. Mitsamt dessen Agenda: Aussenstehende sollten sich nicht einmischen in die Probleme seines Landes, sagte Bischof Samaan zuletzt, weiterhin locker und lächelnd. «Es gibt einen Komplott gegen unser Land, verschiedene Länder wollen nicht, dass es bei uns weitergeht.» Wen der Bischof damit genau meinte, blieb unklar. Klar war nur, dass sein Schlusswort kein «Akt der Demut vor Gott» war.

 

Jubiläumswallfahrt des Hilfswerks «Kirche in Not» in Einsiedeln, 2017 | © Kirche in Not
22. Mai 2017 | 14:07
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