Bogotá: Blick ins Quartier Diana Turbay
International

«Papst Franziskus kann uns aus dem Hass herausholen»

Bogotá, 10.9.17 (kath.ch) Noch bis Sonntagabend (Ortszeit) ist Papst Franziskus in Kolumbien. Was halten die Bewohner in dem südamerikanischen Land vom Besuch des katholischen Kirchenoberhauptes? kath.ch hat während der Papstreise in den südöstlichen Quartieren der Hauptstadt Bogotá verschiedene Stimmen eingefangen. Viele Menschen dort leben in einfachen Verhältnissen.

Andrea Moresino

«Die katholische Kirche gehört zur kolumbianischen Tradition», sagt Luis (24), angesprochen auf den derzeitigen Papstbesuch, «aber sie ist bei den jungen Menschen nicht verwurzelt». Luis gehört zur afrokolumbianischen Minderheit in den Quartieren Diana Turbay, Palermo Sur und San Agustín. Für sein Englischstudium geht er tagsüber einer Arbeit nach. Sein Eindruck sei, dass sich nicht viele dafür interessieren, und auch für ihn selbst sei Papst Franziskus nicht wichtig.

Dieser, sein Eindruck, widerspiegelt sich in der Tatsache, dass der Korporation Casitas Bíblicas zwei Eintrittskarten für das Jugendtreffen mit dem Papst angeboten wurden, weil eine andere Jugendorganisation keine Jugendlichen fand, die sich dafür interessierten. Die Euphorie sei derzeit sehr gross, meint Luis weiter, und «wir sind es gewohnt, viele schöne Worte zu hören, vor allem von Politikern. Aber was wird davon bleiben? Die Realität ist eine andere».

«Wir müssen mehr in der Bibel lesen»

In den südöstlichen Quartieren Diana Turbay, Palermo Sur und San Agustín leben rund 55’000 Menschen. In der Schweiz würde man von einer mittleren Stadt sprechen. Viele der Häuser kleben am Berghang. An einigen Steilhängen kann man nach einem kräftig anhaltenden Regenfall Angst bekommen. Seit den 1950er Jahren siedeln hier Vertriebene aus anderen Teilen Kolumbiens. Ob jeder hier rechtmässiger Grundstückseigentümer ist? Wer weiss das schon.

«Es ist schön, dass der Papst auch zu uns kommt», sagt die Besitzerin eines kleinen Ladens an einer Ecke in Palermo Sur. Die Papstmesse habe sie nicht besucht, verrät sie, aber sie habe Fernsehen geschaut. Hinter der Verkaufstheke zwischen Schokoriegeln, Bleistiften und Shampoofläschchen liest sie in der Bibel.

«Die Hurrikane und das Erdbeben, wir müssen mehr beten.»

«Wir müssen mehr in der Bibel lesen, der liebe Gott ist mit uns nicht zufrieden», erklärt sie mit energischer Stimme, «die Hurrikane und das Erdbeben, wir müssen mehr beten», ist sie überzeugt. Ihr kleiner Gemischtladen, ein so genanntes Mikrounternehmen, entspricht dem Einkommensbild dieser Quartiere. In meist kleinen gemieteten Räumen hin zur Strasse wird angeboten, was die Bewohner brauchen können.

Wohnen auf engem Raum

Die Menschen in diesen Quartieren bezeichnen sich selbst als arm. Oftmals ist die Armut von aussen nicht zu sehen. Wenn von einer sechsköpfigen Familie nur eine Person ein Einkommen hat, muss immer gerechnet werden. Nicht selten bewohnt eine Jungfamilie mit zwei kleinen Kindern ein Zimmer in einer Wohnung gemeinsam mit der Mutter und der Grossmutter. Finanzielle oder Betreuungsgründe lassen die Generationen zusammenrücken. Es ist ein Glücksfall, wenn das Häuschen der Familie gehört. Die Arbeitslosigkeit ist in diesen Quartieren hoch. Daraus resultiert eine derzeit wieder zunehmende Bandenkriminalität, und Rivalitäten enden leider nicht selten mit dem Tod eines jungen Menschen.

Blick vom Quartier Palermo Sur in Bogotá auf Wohnhäuser | © Andrea Moresino

 

Luz (45) und Rosa (42) haben es wie die meisten Menschen gemacht, sie haben sich die Papstmesse im Fernsehen angesehen. Der Papst habe gute Dinge gesagt, meinen beide, ohne dies weiter präzisieren zu wollen. Sie sind von seiner bescheidenen Art angetan, und Rosa meint weiter: «Er hat keine Berührungsängste und geht zu den Armen, zu den Gewaltopfern. Man muss ihn einfach gern haben.» Papst Johannes Paul II. habe diese Einfachheit nicht gehabt, sind sie sich einig.

Luz ist glücklich, dass der Papst nach Kolumbien gekommen ist, denn er hätte auch andere Länder besuchen können. «Alles bewegt der Glaube, und ich hoffe, das wirkt sich auch auf unser Land aus. Viele reden vom Frieden, aber im täglichen Leben wird er nicht gelebt», sagt sie und spielt auf die Situation in den Quartieren an. Der Papst sei dorthin gegangen, wo es den Menschen an vielem fehlt [Anm. damit sind die Departemente Meta und Bolivar gemeint, also die Besuche in Villavicencio und Cartagena de Indias]. «Es wäre gut, würden die Politiker in diese Regionen mehr investieren.»

Schlammschlacht gegen den Papst im Internet

Mit den Nachbarn haben beide nicht über den Papstbesuch gesprochen, wie sie zugeben, auch in den Strassen hätten sie kaum etwas gehört. Im Netz hätten sie jedoch viel gelesen und per Whatsapp Bilder, Gebete und Texte erhalten, nicht alles sei positiv gewesen. Die Kritik in den Sozialen Medien, dass für den Papstbesuch so viel Geld ausgegeben wird, ärgert beide, denn schliesslich sei der Papst «für uns Katholiken eine wichtige Person». Papst Franziskus habe das Geld nicht selbst genommen, wie dies die Pastoren tun, sind sich Luz und Rosa wiederum einig, und wollen die evangelikalen Gruppen und Gemeinschaften als Urheber dieser Kritik identifiziert haben.

Auch Diana (23) und Felipe (26) haben diese Kritik in den sozialen Medien gelesen oder als Nachricht erhalten. «Die Debatte in den sozialen Netzen und die Satiren, welche über Papst Franziskus verteilt wurden, sind für mich oberflächlich und sinnlos», sagt Diana. Sie spricht von einer «Schlammschlacht, die von evangelikalen Kreisen in Facebook veranstaltet wurde». Das habe nichts mit meinem Jesusbild, das für Toleranz, Liebe und Akzeptanz steht, zu tun.

In der Nähe des Quartiers Palermo Sur in Bogotá entstehen neue Häuser, vielfach ohne Bewilligung. | © Andrea Moresino

Diana und ihr Mann Felipe gehören der Mennonitenkirche an. Die Diskussion in ihren Familien über den Papstbesuch sei lebhaft geführt worden. «Rund 90 Prozent derjenigen, die einer Freikirche oder einer evangelikalen Gemeinschaft in Kolumbien angehören, haben einen katholischen Hintergrund», erklärt Felipe. So auch sie. Die katholischen Mitglieder ihrer Familien haben wie selbstverständlich an der Papstmesse im Park Simón Bolívar teilgenommen. In der katholischen Herkunft der Mitglieder der Evangelikalen, sehen die beiden auch die Ursache von deren Angst. «Jetzt haben sie sich von der katholischen Kirche losgesagt und können doch nicht einen Besuch des Papstes gutheissen. Sie sind fast gezwungen, sich negativ darüber zu äussern.»

Papst versteht soziales Umfeld

«Für mich ist es bemerkenswert, wie sich der Papst in Kolumbien ausdrückt, wie er den Kontext des sozialen Umfelds versteht. Ich finde seine Aussagen sehr treffend. Er schafft es, dass der Glaube bei den Leuten eine politische Dimension bekommt», so Felipe weiter. Für Diana ist es darum wichtig zu hören, was ein Mann vom Glauben her zu einem politischen Thema sagt, immer wissend, dass Glaube bei den Menschen im Alltag wichtig ist. Die meisten glauben an etwas, es gebe wenige Agnostiker in Kolumbien, meint sie. «Ich denke, es ist eine politische Reise, wo von politischer Seite her versucht wird, diese zu vereinnahmen.»

«Was der Papst zum Friedensprozess sagt, ist nicht irgendwas»

Der Friedensprozess habe noch so viel Weg vor sich und die katholische Kirche habe viel Verantwortung in diesem Konflikt, denn eine Kirche mit so vielen Gläubigen, muss eine klare Haltung zum Friedensprozess einnehmen, erklärt Diana leidenschaftlich. «Was der Papst zum Friedensprozess sagt, ist nicht irgendwas, denn der Papst ist nicht irgendwer.» Er könne die Leute motivieren, sich für den Friedensprozess einzusetzen, ist sie überzeugt und fügt hinzu, «man darf nicht vergessen, dass die Präsidentenwahlen bevorstehen. Da muss man sich fragen, warum lädt man den Papst gerade jetzt ein und wem nützt es».

«Papst Franziskus kann uns aus dem Hass herausholen»

Der Papst möge einigen unbequem sein, aber «unbequem sein ist im christlichen Glauben verankert». Für die bekennende Protestantin ist «Papst Franziskus einer, der uns aus dem Hass herausholen kann – weil er unbequem ist».

*Andrea Moresino, Redaktorin bei der Presseagentur Kipa bis 2014, lebt in Bogotá und arbeitet als Fachperson von Comundo bei der Korporation Casitas Bíblicas in den südöstlichen Quartieren Diana Turbay, Palermo Sur und San Agustín. Comundo ist eine Schweizer Organisation der Personellen Entwicklungszusammenarbeit.

 

Bogotá: Blick ins Quartier Diana Turbay | © Andrea Moresino
10. September 2017 | 18:00
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