Der Luzerner Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti (rechts) formuliert auch Erwartungen an die Muslime.
Schweiz

Muslime schätzen die Schweiz wegen der Religionsfreiheit

St. Gallen, 14.9.17 (kath.ch) Viele Muslime schätzen den Schweizer Staat, weil er ihnen erlaube, ihre Religion frei auszuüben. Dies sagte der Luzerner Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti am Dienstag an der «St. Galler Konferenz zu Fragen von Religion und Staat». Er formulierte aber auch Wünsche an die Adresse der Muslime. Tunger-Zanetti nahm teil an einer Diskussion mit Mitgliedern der Kantonsregierung und Vertreterinnen und Vertretern von Religionsgemeinschaften zum Thema «Religion und Staat – wer schützt wen?»

Vera Rüttimann

Die religiöse Landschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten auch in der Ostschweiz durch Zuwanderung stark verändert. Das Departement des Innern des Kantons St. Gallen hat deshalb mit der «St. Galler Konferenz zu Fragen von Religion und Staat» eine neue Plattform geschaffen, damit sich Vertreterinnen und Vertreter von Staat und den Religionsgemeinschafen regelmässig austauschen können. Die Veranstaltung im Regierungsratssaal im Klosterbezirk St. Gallen, an der über hundert Personen teilnahmen, fand im Rahmen der diesjährigen interreligiösen Dialog- und Aktionswoche (Ida) statt.

Der St. Galler Regierungsrat Martin Klöti, Vorsteher des Departements des Innern, sagte zur Eröffnung: «Dass sich der Kanton St. Gallen in der Konferenz zu Fragen von Religion und Staat  zusammen mit den hier lebenden Religionsgemeinschaften den Herausforderungen des Miteinanders von Staat und Religionen stellt, ist sehr zu begrüssen.» Die Konferenz könne aufbauen auf den ausgezeichneten und meist unbelasteten Beziehungen zwischen dem Kanton St. Gallen und den öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften in St. Gallen.

Angekommen und doch bedroht

In drei Statements sprachen je drei Vertreter und Vertreterinnen von Religionsgemeinschaften über das Thema Schutzbedürfnis in der Schweiz. Batja Guggenheim von der Jüdischen Gemeinde St. Gallen zeigte auf, wie lange es brauchte, bis sich die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz integriert fühlte. Leila Medii vom Dachverband islamischer Gemeinden der Ostschweiz und des Fürstentum Lichtensteins (Digo) sprach über das Lebensgefühl einer Glaubensgemeinschaft, deren Religion oft mit Terror gleichgesetzt werde.

Der St. Galler Regierungsrat Martin Klöti. | © Vera Rüttimann

Die junge Muslima stellte jedoch auch klar, wie einseitig diese Sichtweise sei: «In den öffentlichen Debatten vergessen wir auch, dass dieser neue religiöse Terrorismus die Muslime in der Schweiz, Europa und in den muslimischen Ländern ebenfalls bedroht.» Für Leila Medii ist deshalb klar, dass der Staat die Religionsgemeinschaften vor politischem Extremismus schützen kann und muss, um das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft zu fördern. Umgekehrt müssen nach Leila Medii die Religionsgemeinschaften den Staat und die Gesellschaft vor religiösem Radikalismus schützen.

Wie sicher sind Gottesdienste in der Kathedrale?

Claudius Luterbacher-Maineri, Mitglied des Ordinariatsrates des Bistums St. Gallen, zeigte auf, was den Schutz der Religionsgemeinschaften so wichtig macht. In Zusammenhang mit religiösen Feiern in der Kathedrale, wo manchmal über 1000 Personen zusammen kämen, stelle auch er sich manchmal die Frage nach der Sicherheit. So sei er froh, in einem Staat zu leben, in dem die Bundesverfassung und auch die Verfassung des Kantons St. Gallen festhalten, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleistet seien. Er betonte: «Der Schutz der Religionsfreiheit ist wohl die wichtigste Aufgabe eines Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften auf seinem Gebiet.» Dadurch würden sie sichtbar und wahrgenommen, wodurch erst Begegnung ermöglicht werde.

Der St. Galler Regierungspräsident Fredy Fässler beleuchtete in diesem Kontext eine weitere Ebene, in dem er in seinem Referat auf die Verantwortung des Staates für seine Bürger einging. Es sei die Aufgabe des Staates, «primär Menschen und nicht juristische Personen oder Personenvereinigungen zu schützen», so der Vorsteher des Sicherheits- und Justizdepartements.

Muslime schätzen die Schweiz

Andreas Tunger-Zanetti, Islamwissenschaftler und Koordinator des Zentrums Religionsforschung ZRF der Universität Luzern, sprach in seinem Hauptreferat zum Thema «Schutz des Staates, was können die Religionsgemeinschaften dafür tun?». Als Religionsforscher mit Schwerpunkt Islam in der Schweiz sei er häufig unterwegs zu Gast in Moscheen. «Dort, wo gebetet, gesungen, geräuchert und Tee getrunken wird», wie er beschrieb. Er erlebe meist Muslime, die diesen Staat schätzen, weil er ihnen erlaube, ihre Religion frei auszuüben.

Andreas Tunger-Zanetti weiss, weshalb: «In ihrer alten Heimat haben sie oft erlebt, wie Religion eigennützig für politische Ziele einspannt wurde.» Oftmals höre er deshalb den Satz von Muslimen, dass sie ihren Glauben in der Schweiz besser leben können. Er sei deshalb zutiefst überzeugt, «dass die Religionsgemeinschaften, muslimische wie andere, egal ob öffentlich-rechtlich anerkannt oder nicht, alles Interesse daran haben, diesem Staat Sorge zu tragen, ihn zu stärken und zeitgemäss weiterzuentwickeln.»

In seinem Referat zählte der Islamwissenschaftler eine Reihe von Beobachtungen auf, die ihm positiv aufgefallen seien: Die muslimische Gemeinschaft kenne die Gesetze hierzulande und würde sie auch einhalten. «Die medial verhandelten Fälle, wo dies gerade nicht so sei, lassen leicht vergessen, dass es eben in aller Regel gut funktioniert», präzisierte er. Tunger-Zanetti sprach von Religionsgemeinschaften, die auf staatlicher Ebene ansprechbar seien und die auch im engen Kontakt mit den Landeskirchen stünden. Er erlebe sie als offene Gemeinschaften, die ihre Gebetsräume für Schulklassen oder Erwachsenenbildungsgruppen öffnen würden. Zögerlich, wandte er allerdings ein, weil sie mit Medien oft schon negative Erfahrungen gemacht hätten.

Imame und Priester sollen Landessprache sprechen

Der Islamwissenschaftler hielt Muslimen in seinem Referat jedoch auch kritisch den Spiegel vor und zählte auf, welche Dinge sie selbst für den Staat und das Gemeinwesen tun könnten. Dachverbände sollten sich viel öfter zu allgemeinen Fragen jenseits des Religiösen äussern. Religionsgemeinschaften sollten ihre religiösen Spezialisten zudem noch bewusster auswählen und begleiten. Der Redner forderte in seinem Referat klar: «Sie sollten zum Beispiel darauf bestehen, dass ihre Priester und Imame rasch eine Landessprache flüssig sprechen und ihre Kenntnisse der Schweizer Gesellschaft und Strukturen laufend erweitern.»

Der reformierte Kirchenratspräsident Martin Schmidt | © Vera Rüttiman

Religionsgemeinschaften müssten sich seiner Meinung nach auch im lokalen Umfeld stärker einbringen, etwa indem sie mit anderen lokalen Partnern Projekte realisieren. Konkret denkt Tunger-Zanettei an Dinge wie Quartierputzete, Jugendarbeit und Feste. Oft passiere das schon, aber noch zu selten. Der Luzerner ist sich sicher: «Sich hier zu engagieren ist zentral, denn die lokalen Partner kennen einen. Sie werden den konkreten Beitrag für das Gemeinwesen auch anerkennen und diese gesellschaftliche Anerkennung eines Tages eher mit einer juristischen Anerkennung besiegeln.»

«09/11» und die Folgen

An der anschliessenden Podiumsdiskussion wurden auch die Terroranschläge vom 11. September 2001 auf die USA und deren Auswirkungen auf den interreligiösen Dialog thematisiert. Martin Schmidt, Kirchenratspräsident der reformierten Kirche St. Gallen, resümierte: «Dieser Tag hat vieles verändert in der Wahrnehmung des Islams. Mit Veranstaltungen wie der heutigen wollen wir rauskommen aus der Sündenbock-Diskussion, der die Muslime seit diesem Tag oft ausgesetzt sind.» Alle Redner zeigten sich erfreut darüber, dass Gesprächsplattformen wie die «St. Galler Konferenz zu Fragen von Religion und Staat» bereits als Tradition verankert werden konnten. Claudius Luterbach betonte abschliessend: «In Zeiten gesellschaftlichen und religiösen Wandels bleibt es eine wichtige Aufgabe von Staat und Religionsgemeinschaften, gemeinsam das gute Verhältnis von Staat und Religionen immer wieder zu suchen und auf den verschiedensten Ebenen zu finden.»

Der Luzerner Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti (rechts) formuliert auch Erwartungen an die Muslime. | © Vera Rüttimann
14. September 2017 | 12:19
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