Michael Schaar, Pilgerpfarrer an der Zürcher Citykirche St. Jakob
Schweiz

Michael Schaar lotet alle Facetten des Pilgerns aus

Zürich, 22.10.17 (kath.ch) Seit einem Jahr arbeitet Michael Schaar am Offenen St. Jakob in Zürich als Pilgerpfarrer. Mit einem innovativen Programm befreit er Gestresste aus dem Alltag und eröffnet ihnen neue Sichtweisen.

Vera Rüttimann

Als Michael Schaar 21 war, hörte er viel vom «Camino de Santiago». Als ihn ein Studienfreund anfragte, ob er mit ihm eine Pilgerreise mache möchte, sagt er sofort zu. Michael Schaar wollte herausfinden, ob das etwas für ihn ist. So pilgerte er mit ihm während zehn Tagen auf der «Via Baltica» von Swinemünde in Polen bis nach Lübeck. Da er zu viel Gepäck mitgenommen hatte, schickte er auf dem Postamt in Usedom gleich das erste Paket nach Hause. Das tiefe Erlebnis aber, die Stille und Ruhe zu verbinden mit dem Gehen in freier Natur, das liess ihn seither nicht mehr los. Diese Erfahrung möchte der 40-Jährige heute anderen Menschen weitergeben. Seit letztem Herbst als Leiter des Pilgerzentrums St. Jakob in Zürich.

Heimatort Offener St. Jakob

Seinen Arbeitsort, die Offene Kirche St. Jakob, kennt er schon aus seiner Ausbildungszeit. Hier absolvierte Michael Schaar sein Vikariat. 2005 zog er mit zwei Koffern in die Schweiz. Neben seinem Engagement im Pilgerpfarramt der reformierten Zürcher Landeskirche arbeitet er auch in der Kirchgemeindearbeit in Zürich-Aussersihl und als Co-Leiter eines Theologiekurses der Landeskirche.

Der reformierte Theologe empfindet es «als ein Privileg, mit Menschen aus der ganzen Schweiz beim und durch das Pilgern zusammenzukommen». Seine Gemeinde beschreibt er als eine, die mit ihm auf dem Weg ist. Michael Schaar weiss: «Für viele Pilgerinnen und Pilger ist der Offene St. Jakob zu einem Heimatort geworden.»

Schaar experimentiert mit neuen Formaten

Im Pilgerpfarramt greift ihm Brigitte Vuichard, Sekretärin und Assistentin im Pilgerzentrum, unter die Arme. Er habe, wie er betont, «grosse Lust, für bestimmte Zielgruppen neue Formate zu entwickeln, dies auch gemeinsam mit den Pilgerinnen und Pilgern». Seine Ideen finden Niederschlag in einem breit gefächerten Programm.

Vor der Haustür pilgern

Zum Reformationsjubiläum bietet das Pilgerzentrum in diesem Jahr ein Tagespilgern auf dem Hugenotten- und Waldenserpfad an. Der Weg begann Ende Januar in Genf und endet Mitte November in Schaffhausen. Gemeinsam mit Interessierten pilgerte Michael Schaar auf diesem Pfad durch die Schweiz. «Mit diesem Pilgerweg wollen wir an das Schicksal der reformierten Glaubensflüchtlinge erinnern und uns persönlich mit Themen wie Exil, Migration und Integration befassen», sagt Michael Schaar.

Man kann auch vor der eigenen Haustür pilgern.

Unlängst begleitete er die Etappe von Killwangen-Spreitenbach AG nach Zürich auf dem Hugenotten- und Waldenserpfad. Sie führte die Pilger auch am Kloster Fahr vorbei, wo sie in der St. Anna-Kapelle Abendmahl feiern konnten. «Auf dem Kloster-Fahr-Weg in die Stadt Zürich hinein erlebten wir dennoch viel Natur. Uns kamen sogar Hängebauchschweine entgegen, die irgendwo ausgerissen waren», erzählt er. Wer Schaar zuhört, merkt, wie wichtig ihm das Tagespilgern ist. «Man kann auch vor der eigenen Haustür pilgern», ist er überzeugt.

«After-Work-Pilgern»

Ein niederschwelliges Angebot ist das «AfterWorkPilgern». Gedacht ist es für Leute, die nach dem Arbeitstag während neunzig Minuten an gastliche Orte in Zürich geführt werden und dabei den Kopf frei bekommen möchten. Der Deutsche mag diese Form von Kurzpilgern, die mit Achtsamkeitsübungen verbunden ist. Besonders freut sich Michael Schaar, dass sich eine ehemalige Konfirmandin an der Durchführung des Angebots beteiligt.

Viermal im Jahr wird in Stille unter dem Stichwort «LAufmerksamkeit» von der St. Jakob-Kirche aus in einer Tageswanderung zum Kloster Kappel, einem ehemaligen Zisterzienserkloster in Kappel am Albis ZH, gepilgert. Und am 20. Mai fand in diesem Jahr erstmalig ein schweizweiter Pilgertag statt, der unter dem Motto «Immer der Muschel nach» stand. Auf allen 46 Streckenabschnitten des schweizerischen Jakobswegs gleichzeitig begleitet zu pilgern, das war dabei die Intention. Immer wieder stellt Michael Schaar fest, dass er mit Menschen unterwegs ist, die längst den Draht zur Kirche verloren hatten, durch das Pilgern und das Pilgerzentrum aber wieder einen neuen Zugang zur Institution «Kirche» bekommen haben. Gerade für diese Menschen, sagt er, wolle er Seelsorger sein, weil er bei ihnen den Wunsch nach etwas «Grösserem» spüre.

Trauern mit den Füssen

Ein weiteres besonderes Angebot ist «Pilgern für Trauernde». Trauernde, die einen nahen Menschen verloren haben, konnten mit Michael Schaar in diesem September auf dem Harzer Klosterweg in Deutschland während sieben Tagen pilgern. Dieses Format wird auch 2018 wieder stattfinden.

Das Trauerpilgern ist für ihn eine wichtige Aufgabe: «Trauernde aus der Erstarrung in die Bewegung – äusserlich und innerlich – zu begleiten, und dann die Wandlung zu erleben. Das ist für mich ein wertvolles Geschenk», sagt Schaar.

Michael Schaar: «Trauerpilgern ist Geburtshilfe für neues Leben.» | © Vera Rüttimann

 

Michael Schaar bot dabei mit Andachten, Meditationen, Gebetszeiten und der Möglichkeit zu Einzelgesprächen verschiedene Formen der Trauerverarbeitung an. Das Trauerpilgern führte er gemeinsam mit Regula Würth durch, einer katholischen Seelsorgerin und Leiterin von «Exerzitien im Alltag» aus St. Gallen. Der Pilgerpfarrer betont: «Diese Pilgerreise ist keine Therapie-Sitzung. Im Gegenteil: Sie ist eine Geburtshilfe für ein neues Leben.» Schaar, der im letzten Jahr seinen Vater verloren hat, hat selbst die Erfahrung gemacht, wie heilsam es ist, gemeinsam mit anderen Trauerarbeit zu machen und dabei pilgernd zu Fuss unterwegs zu sein.

Mit anderen unterwegs sein

An den Touren des Pilgerzentrums Offener St. Jakob nehmen mehrheitlich Reformierte teil, aber auch Katholiken und Konfessionslose sind mit auf dem Weg. Gibt es Unterschiede zwischen katholischen und reformierten Pilgern? Reformierte, beobachtet Michael Schaar, pilgern weniger zu Reliquien oder Gräbern. Ablass und Busse spielen auch in seinem Pilgerkonzept keine Rolle. «Nach reformiertem Verständnis steht vielmehr der Weg im Mittelpunkt und das, was er mit dir macht», betont er.

Vom Misthaufen am Wegrand zum Mist im eigenen Leben

Als Pilgerleiter sei es ihm wichtig, mit anderen unterwegs praktische Erfahrungen zu machen. Weg zu kommen von der reinen Wissensvermittlung. Bei einem Misthaufen am Wegrand beispielsweise könne der Mist im eigenen Leben das Thema sein. Auch ein Kreuzgang, in dem sich Licht und Schatten abzeichnen. Michael Schaar unterstreicht: «Es ist wichtig, dass man solche Themen eines Weges aufgreift und als Impulse setzt für die Gruppe, mit der man unterwegs ist.»

Pilgern abseits der Massen

Michael Schaar hat auch im nächsten Jahr viel vor. Besonders freut er sich jedoch auf eine Form des Stadtpilgerns, bei dem diesmal London das Ziel sein wird. Nächtigen wird die Gruppe in einem Stadtkloster. 2018 wird Michael Schaar zudem seine Ferien auf dem «Camino Inglés» (der englische Weg nach Santiago de Compostela) verbringen, den er mit anderen Pilgerinnen und Pilgern im Oktober gehen wird.

Das persönliche Traumpilgerziel des Skandinavien-Fans heisst jedoch Dänemark. Besonders der «Hærvejen» (»Ochsenweg») hat es ihm angetan. «Ich bin ihn bereits zweimal gegangen. Es ist einfach Natur pur, und man pilgert kaum auf asphaltierten Strassen und ist nahezu allein», schwärmt er. Menschen, weiss Schaar, wollen in freier Natur und beim Gehen tiefe Erfahrungen machen. Mit sich selbst und mit anderen. Das gelingt für ihn am besten an Orten, die noch nicht so überlaufen sind. Der Pilger-Profi sagt: «Ich empfehle allen, mal keine ausgetretenen Wege zu gehen. Sie werden belohnt.»

Michael Schaar, Pilgerpfarrer an der Zürcher Citykirche St. Jakob | ©Vera Rüttimann
22. Oktober 2017 | 12:31
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