Liebe zwischen Aussenseitern
Schweiz

«Liebe ist die extremste Form der Öffnung für andere Menschen»

Zürich, 5.12.17 (kath.ch) Mit ihrer Liebesgeschichte «On Body and Soul» hat die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi den Preis der Ökumenischen Jury und den Goldenen Bären an der Berlinale gewonnen. Zum Schweizer Kinostart am 7. Dezember hat kath.ch mit der Regisseurin über Liebe, Körper und ihren spirituellen Zugang zum Filmemachen gesprochen.

Charles Martig

Sie haben in Berlin den Preis der Ökumenischen Jury erhalten. Was bedeutet er für sie?

Ildikó Enyedi: Es war eine wunderbare Überraschung für mich. Der Preis hat für mich eine besondere Bedeutung, weil mir der ökumenische Ansatz entspricht. Tatsächlich geht es in all meinen Filmen im Grunde darum, was wir in unserem täglichen Leben tun können. Was wir in Familien und Gemeinden tun, wirkt sich auf grössere Bewegungen der Geschichte aus.

Wie wurde «On Body and Soul» vom Publikum aufgenommen?

Enyedi: Nach der hervorragenden Resonanz an den Internationalen Filmfestspielen Berlin, bei denen er mehrere Preise gewann, präsentierten wir den Film in der ersten Märzwoche 2017 in Ungarn. Er läuft dort immer noch in den Kinos. Der Film wird nun aufgrund des Erfolgs in beinahe allen europäischen Ländern gezeigt.

Was macht den Erfolg des Filmes aus?

Enyedi: Liebe ist die extremste Form der Öffnung für einen anderen Menschen. Daher ist es gut, dies in Form einer Liebesgeschichte zu zeigen. Aber in der Tat geht es darum, das Risiko einzugehen, nicht sich selbst zu zerbrechen oder zu verteidigen, sondern im Leben voll präsent zu sein. Dieses Thema spricht ein grosses Publikum an.

In Ihrem Film interessieren Sie sich sehr für den Aspekt der Seele. Was beabsichtigen Sie damit?

Enyedi: In diesem Film geht es vor allem um die Seele, auch dort, wo wir Körper, menschliche und tierische Leiber zeigen. Die junge Frau Mária versucht, ihre Seele zu öffnen. Sie macht kleine Schritte, um die Welt um sich herum zu entdecken: den Reichtum und die Schönheit der Natur zum Beispiel oder die Kraft der Sonne und des Grases. Die Frau entwickelt sich durch ihre Sinneseindrücke. Auf diese sehr indirekte Weise wollte ich zeigen, dass Körper und Seele ein Ganzes sind. Wir sind das Zusammenspiel dieser beiden Aspekte.

«Ich wollte zeigen, dass Körper und Seele ein Ganzes sind.»

Sie arbeiten mit vielen sinnlichen Details. Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine Kamera aufstellen und das Leben von Personen anschauen?

Enyedi: Es kann eine leidenschaftliche Sache sein, in einem Park zu sitzen und Menschen zu beobachten. Ich finde es sehr berührend zu sehen, wie Menschen sich in allen möglichen Tätigkeiten vergessen können: beispielsweise in ehrlicher Arbeit, im Kochen oder im Umgang des Zimmermanns mit Holz sehe ich eine Stimmigkeit der Gesten. In dieser Schönheit zeigt sich für mich der transzendente Aspekt des menschlichen Lebens. Schönheit und Transparenz zeigen sich in der Art, wie man einen Gegenstand berührt. Jede Geste ist Kommunikation mit der Welt um einen herum.

Wie verwirklichen Sie diese Haltung beim Filmemachen?

Enyedi: Wenn Sie Menschen in ihrem schönsten Zustand sehen wollen, gehen Sie auf ein Film-Set. Ich bin immer wieder zutiefst berührt, dass hart arbeitende Menschen, die Familien zu Hause haben, um vier Uhr morgens herkommen und 14 Stunden am Tag für etwas arbeiten, was nicht notwendig ist. Film ist etwas völlig Imaginäres. Aber das Film-Team kann stark an das gemeinsame Projekt, an die Gestaltung einer Geschichte glauben. Es ist wunderbar zu sehen, dass nicht nur die Filmcrew, sondern auch die Fahrer unserer Filmproduktion genau wussten, was wir vorhatten.

Wie sind Sie vorgegangen, um diesen Gemeinschaftssinn zu erreichen?

Enyedi: Ich schrieb eine Zusammenfassung, damit alle wussten, worum es in diesem Film geht. Daraus resultierte eine aussergewöhnliche Detailtreue. Die ganze Crew arbeitete sehr genau. Wir waren alle sehr daran interessiert, bei der Umsetzung des Drehbuchs die einzelnen Szenen bis in das kleinste Detail zu gestalten.

«Ich betrachte das Filmemachen wie die Erschaffung eines Gedichts.»

Das scheint mir ein sehr spiritueller Zugang.

Enyedi: Da stimme ich zu. Das Schöne ist, dass man diese Ebene des Filmemachens durchaus erreichen kann. Bei einem Gedicht kann man nichts hinzufügen oder wegnehmen. Es ist eine hohe Genauigkeit erforderlich. Um in dieser Metapher zu bleiben: Ich betrachte das Filmemachen wie die Erschaffung eines Gedichts, das nicht nur von einer Person, dem Schriftsteller oder der Schriftstellerin geschrieben wird, sondern von einem ganzen Team. Mit 60 Leuten ein «Filmgedicht» zu schreiben, ist eine erstaunliche Erfahrung.

Wie meinen Sie das?

Enyedi: Um diese Arbeit richtig zu machen, musste die Filmcrew den Film in seiner ganzen Tiefe verstehen. «On Body and Soul» war wie eine zerbrechliche Prinzessin. Die kleinste falsche Geste konnte das Ganze ruinieren. Schon bei der Farbgebung ging es nicht nur um Ästhetik, sondern um die Bedeutung der Szene. Wir sprachen über Márias Gefühle und darüber, wie sich ihre Welt verändert.

«Die kleinste falsche Geste konnte das Ganze ruinieren.»

Wie haben die Schauspieler auf Ihre Arbeitsweise reagiert?

Enyedi: Die Kommunikation zwischen den Schauspielenden und mir als Regisseurin war sehr gut. Man muss sie kennen lernen und verstehen, wie sie kommunizieren. Das Besondere am Film-Set war, dass die ganze Crew so tief in den Film eintauchte.

Wie hat sich die Schauspielerin Alexandra Borbély an die Rolle der María herangetastet?

Enyedi: Mit Alexandra Borbély war die Arbeit sehr symbiotisch. Ich musste ihr während der Filmaufnahmen kaum etwas sagen. Es war wirklich schön, ihren Weg zu beobachten: Wie sie die Person der Mária nicht nur verstehen wollte, um dann die Rolle zu spielen, sondern den Körper und die Seele dieses Charakters zu finden versuchte.

Hinweis: «On Body and Soul» ist Film des Monats Dezember 2017 (Medientipp)


 

Liebe zwischen Aussenseitern | © Filmcoopi Zürich
5. Dezember 2017 | 14:34
Lesezeit: ca. 3 Min.
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Filmtipp «On Body and Soul»

Eine Liebe im Schlachthaus? Mit den ersten Einstellungen befinden wir uns mitten im Alltag der fleischverarbeitenden Industrie von Budapest. Der Film erzählt eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen der jungen Mária, die gerade mit der Arbeit als Qualitätskontrolleurin begonnen hat, und Endre, dem Finanzchef der Fabrik.

Aus unterschiedlichen Gründen haben die beiden Protagonisten keinen leichten Zugang zum Leben. Sie sind mit körperlichen und sozialen Grenzen konfrontiert, die sie täglich herausfordern. Die Kommunikation zwischen Mária und Endre ist fast unmöglich. Zufällig entdecken sie, dass sie sich regelmässig in Träumen treffen. In diesen Träumen wird die Natur zu einem Ort von unglaublicher Schönheit und Intensität. Ihnen steht der Tod im Schlachthof gegenüber. Das sind – auf den ersten Blick – zwei unversöhnliche Welten.

Der starke Kontrast zwischen Freiheit und Zwang wird nicht nur innerhalb der Erzählung inszeniert, sondern auch stilistisch mittels Nahaufnahmen von kleinen Dingen des Alltags. Körper und Seele sind als Bruchstücke im alltäglichen Leben präsent. Immer mehr lösen sich die Grenzen auf. Der präzise und sensible Blick der Kamera deutet an, dass Körper und Seele nicht unabhängig voneinander existieren können.

Die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi wurde für ihre herausragende Sensibilität im Umgang mit dem Thema mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Ökumenischen Jury in Berlin. (cm)