Leo Karrer
Schweiz

Leo Karrer: «Sich mit Katholikentagen länderübergreifend vernetzen»

Freiburg i.Ü., 15.5.16 (kath.ch) Zu seinem 100. Jubiläum kommt der Deutsche Katholikentag nach Leipzig. Leo Karrer, emeritierter Professor für Pastoraltheologie der Universität Freiburg, ist durch eigene Erfahrungen ein Kenner der deutschen Kirchenszene. Er wagt einen Blick zurück und nach vorn. 

Vera Rüttimann

Katholikentage sind heute kaum mehr wegzudenken. Wie haben Sie die Entwicklung dieser Versammlung persönlich erlebt?

Leo Karrer: Der Deutsche Katholikentag ist der Dinosaurier unter den Massenveranstaltungen. Den ersten habe ich 1974 in Mönchengladbach erlebt. Die Katholikentage waren damals schon ein Forum für gesellschaftspolitisch und innerkirchlich relevante Themen. Zudem bekamen Katholikentage immer mehr eine Kompassfunktion bei der Suche nach Orientierung bei aktuellen Herausforderungen. Zum anderen sind sie bis heute ein frohes Fest mit Gottesdiensten, Bibel-Meditationen und hochkarätig besetzten Podien. Bis heute kommt hier die ganze Bandbreite kirchlich engagierter Menschen zusammen: Laien und Kleriker, Gläubige und Suchende.

An den Katholikentagen schlug die Stunde der Laien.

Karrer: Ja! In den 70er und 80er-Jahren fand der Aufbruch der Laien in den pastoralen Diensten statt. Eine Entwicklung, die durch die Katholikentage sichtbarer wurde. Es kam vieles in Bewegung, nicht zuletzt auch durch den Einfluss des Konzils und der Synoden. Und junge Leute, die die Pfarreien mit ihren Angeboten nicht mehr erreichen konnten, mischten an Katholikentagen kräftig mit.

Ich erlebte zudem mit, wie die deutschen Katholikentage von unzähligen Vereinen, Organisationen und Institutionen mitgetragen wurden. Bis heute sind sie eine veritable Informationsböse.

Die Katholikentage wurden später zunehmend politischer, auch «heisse Eisen» wurden aufgegriffen. Wie erlebten Sie das?

Karrer: Der Katholikentag wurde immer mehr zu einem Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklungen und der innerkirchlichen Prozesse. Themen wie die Pille-Frage, atomare Abrüstung und Emanzipation der Frau sowie synodale Mitsprache wurden vermehrt kontrovers diskutiert.

Nahe erlebte ich dann die «Katholikentage von unten», die von kirchen-kritischen Gruppen durchgeführt wurden. Später wurden sie in das offizielle Programm der Katholikentage integriert. Ich erinnere mich an die «Gespräche am Jakobsbrunnen», noch heute organisiert von der Plattform «Wir sind Kirche» und der Zeitschrift Publik Forum, oder an die kirchlich verbotene ökumenische Mahlfeier 2003 in der Gethsemane-Kirche Berlin.  Dem Theologieprofessor Gotthold Hasenhüttl, der der Mahlfeier vorstand, wurde leider hinterher die Lehrerlaubnis entzogen.

Gab es in der Schweiz auch jemals Katholikentage?

Karrer: Was viele nicht mehr wissen: Inspiriert von den deutschen Katholikentagen gab es auch in der Schweiz von 1903 bis 1954 Katholikentage. Starke Impulse gingen von der konservativen Volkspartei (heute CVP) aus, aber auch von den Verbänden und dem Schweizerischen Katholischen Volksverein (SKVV). Die Katholikentage, die periodisch wiederkehren sollten, schliefen hier jedoch ein. Massenversammlungen haben es in der Schweiz sehr schwer. Gleichzeitig entstanden mit dem Fastenopfer, dem Missionsjahr, dem Ranfttreffen sowie den Pastoraltreffen und Synoden andere grosse Initiativen.

Sie plädieren seit Jahren für einen gemeinsamen Katholikentag für die deutschsprachigen Länder. Was würde das bringen? 

Katholikentage waren für mich immer eine enorme Horizonterweiterung und sie schenkten ein Gefühl der Solidarität in gemeinsamen Anliegen. Eine periodisch wiederkehrende, überregionale Zusammenkunft aller relevanten kirchlichen Kräfte, die solidarisiert, das vermisse ich in der Schweiz sehr. Seit es keine Katholikentage mehr gibt, ging ein grosses Forum verloren. Wir haben zu wenig überregionale Instrumente für gemeinsame Initiativen, obwohl es hierzulande eindrucksvolle Verbände gibt wie der Schweizerische Katholische Frauenbund.

Haben Sie deswegen die Idee der «Tagsatzung» eingebracht?

Karrer: Ich habe gehofft, dass die von mir lancierte Plattform einmal zu einer Trägerschaft für einen Katholikentag in der Schweiz werden könnte. Ein solcher Tag könnte ein Instrument sein, mit dem man miteinander versucht, Zeitzeichen zu verstehen, Impulse zu setzen und sich länderübergreifend vernetzt. Die Kirche Schweiz könnte an einem solchen Katholikentag durchaus selbstbewusst auftreten, denn sie hat viele Impulse zu geben, auch über die Landesgrenzen hinaus. So beispielsweise in der Praxis der Liturgie, der Verkündigung, im Einsatz von Laien sowie bezüglich synodaler Elemente.

Der 100. Katholikentag findet in Leipzig statt, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Welchen Bezug haben Sie zu diesem versunkenen Land?

Karrer: Ich selbst war mehrfach in der DDR. So beispielweise, als ich Mitte der siebziger Jahre einmal Bücher für Leute im Ordinariat nach Ost-Berlin schmuggelte. Ich hatte sie in meinen Manteltaschen versteckt. Ich war sehr angespannt als ich den Grenzübergang am Checkpoint Charly passieren musste. Ich zeigte meinen Schweizer Pass und es ging gerade noch gut.

Die Teilung betraf auch meine Familie. Mein Schwager stammt aus Heiligenstadt im katholischen Eichsfeld (Thüringen), wo er in der kirchlichen Jugendarbeit überaus engagiert war. Als der Katholikentag 1956 in Köln war, flüchtete er nach Westdeutschland. Danach konnte er nicht mehr zurück zu seinen Verwandten.

Welche Zeichen wollen die Organisatoren des Katholikentages mit der Ortswahl Leipzig setzen?

Karrer: Zum einen will man wohl mit Leipzig, das sich im Stammland der Reformation befindet, im Vorfeld des Reformationsjubiläums 2017 ein Zeichen für die Ökumene setzen. Zum anderen möchten die Organisatoren nun offenbar in eine Region gehen, in der Christen in der Minderheit sind: Hier gehören 80 Prozent keiner Kirche an, nur vier Prozent sind katholisch.

Leipzig zeigt, wie ganz Ostdeutschland, einen Grad an Entchristlichung, wie er in Europa selten vorzufinden ist. Die Organisatoren legen diesen Katholikentag deshalb bewusst niederschwellig an. Das finde ich bemerkenswert. Alle wichtigen Veranstaltungen finden mitten in Leipzigs City statt. Alle sind eingeladen, so die Botschaft. Somit wird es an diesem Katholikentag nicht so sehr um innerkirchliche Themen gehen, sondern um Orientierungssuche, also um Menschen- und Gottesfragen.

Der Katholikentag 2016 steht unter dem Leitwort «Seht, da ist der Mensch.» Welche Botschaft will er damit aussenden?

Karrer: Das Leitwort zeigt auf, was im Zentrum unseres Suchens und der Botschaft Jesu stehen soll: Der Mensch. Dabei denken wir an die an den Rand Gedrängten, Flüchtenden, Verletzten und Unverstandenen. In diesem Zusammenhang sind wohl auch die Mitglieder von Pegida und der AfD (Alternative für Deutschland) zu sehen. Ich verstehe, dass die Verantwortlichen des Katholikentages den offiziellen Vertretern der AfD kein Forum bieten wollen für Eigenwerbung. Anderseits ist es wichtig, dass gerade in der Stadt der friedlichen Revolution von 1989 auch diese Gruppe in den gesellschaftlichen Diskurs einbezogen wird. Das spezifisch Christliche ist das entscheidend Menschliche. Wir können keinen Gott verkünden, der parteiisch ist und andere ausschliesst. Er meint alle Menschen. (vr)

Hinweis: Der 100. Katholikentag findet vom 25. bis 29. Mai in Leipzig statt.

Bilder sind direkt bei der Autorin zu beziehen unter info@veraruettimann.com.

Leo Karrer | © Vera Rüttimann
15. Mai 2016 | 11:28
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