Isabelle Müller, Christiana Mattli, Hugo Fasel, Martin Flügel (v.l.)
Schweiz

Kinderflüchtlinge bleiben hier und brauchen eine Ausbildung

Bern, 13.6.17 (kath.ch) «Wir können nur über das reden, was bei uns strandet», sagt Caritas-Direktor Hugo Fasel. Darum fordert Caritas Schweiz bei der Betreuung von unbegleiteten jugendlichen Asylsuchenden eine bessere Harmonisierung zwischen den Kantonen bei der Betreuung der Jugendlichen. Diese müssten ausgebildet werden, damit sie später nicht Sozialhilfebezüger werden.

Georges Scherrer

Seit 2015 sieht sich die Schweiz einem neuen Phänomen gegenüber. Bis vor drei Jahren stellten einige Hundert unbegleitete Minderjährige hierzulande ein Asylgesuch. Ende 2016 waren es ungefähr 5800. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen würden eigentlich genügen, in der Praxis hapert es gemäss Caritas gewaltig. Darum war das Verb «fehlen» eines der meist benützten Worte an der Pressekonferenz von Caritas Schweiz am Dienstag in Bern.

Zum einen fehlt es in den Empfangs- und Verfahrenszentren des Bundes (VEZ) an geeignetem Personal, die eine gesetzlich fundierte Registrierung der asylsuchenden Kinder durchführen können. Oft stelle sich im Nachhinein heraus, dass bei dieser Registrierung eines Jugendlichen einiges schief ging. Erst wenn es «zu spät» sei, realisiere die junge Person, was im VEZ von ihr verlangt wurde, sagte Isabelle Müller von der Rechtsberatungsstelle Caritas Schweiz.

Das Wort «fehlen» war das meist benutzte Wort.

Fehlende Sprachkenntnisse und schlechte Unterstützung durch Übersetzer sind eine Fehlerquelle. Vorname und Name können verwechselt werden. Fehler schleichen sich auch bei der Umrechnung von Jahrgängen in den europäischen Kalender ein. Fehler in der Altersangabe könnten später zu einer verhängnisvollen Entwicklung führen.

Gefährliche Volljährigkeit

Caritas beklagt ein «Abschiebekalkül mit dem Alter». Asylanfragen von Jugendlichen würden auf die lange Bank geschoben. Sobald diese das Alter von achtzehn Jahren erreichen, werde der Entscheid gefällt. Denn es sei leichter eine volljährige Person abzuschieben als ein Kind, sagte Martin Flügel, Leiter Politik und Public Affairs bei Caritas Schweiz.

Alle Minderjährigen haben in der Schweiz das Recht, dass ihnen der Staat hilft. Dies garantiere ihnen die Bundesverfassung, so Flügel weiter. Caritas beklagt aber Mängel in den Verfahren. Das Hilfswerk fordert beim Bundesrat Verbesserungsbedarf. Mehrere Nationalräte werden mit entsprechenden parlamentarischen Anfragen den Bundesrat an seine Verantwortung erinnern, sagte Flügel.

«Alle Kinder sind gleichwertig.»

Mit mehreren Forderungen stellt sich das Hilfswerk vor die Öffentlichkeit. Der Staat solle davon absehen, die Jugendlichen in «technokratischer Manier» zu behandeln. Dazu gehöre auch, dass die Behördenmitglieder die jungen, «besonders schutzbedürftigen Menschen» motiviert behandeln. Der Staat solle die Kinder nicht kurzsichtig durch die «Brille des Asylgesetzes» beurteilen.

Jedes Kind trägt zur Zukunft der Schweiz bei

Ein Grossteil der asylsuchenden Kinder kommt aus Ländern wie Syrien, Eritrea, Afghanistan, Somalia. Man müsse davon ausgehen, dass diese Menschen auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Darum müssten diese Jugendlichen ausgebildet werden. Dies nicht zuletzt darum, damit sie später nicht sozialabhängig werden, sondern für sich selber sorgen können. «Alle Kinder sind gleichwertig», lautet darum eine Aussage von Caritas.

Der Staat müsse, wie es die Bundesverfassung fordere, dafür sorgen, dass die Jugendlichen Geborgenheit und Erziehung erfahren und zu einem stabilen sozialen Netz finden. Will heissen: Die Kinder müssen professionell begleitet werden. Zudem müssten die Unterschiede zwischen den Kantonen bei der Betreuung ausgeebnet werden. Die Zuweisung zu den Kantonen dürfe kein «Lotterie-Spiel» sein. Eine «Harmonisierung» zwischen den kantonalen Systemen sei notwendig, so dass die Betreuung überall gleichwertig wird.

Ausbildung tut Not und kostet

Die Jugendlichen sollten bis zum Niveau der neunten Klasse ausgebildet werden, so dass sie auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben. Der Direktor von Caritas Schweiz, Hugo Fasel, forderte darum eine «Schonfrist» für die Jugendlichen, die es ihnen erlaube, auch nach Erreichen des 18. Altersjahr eine Ausbildung zu beenden.

An vielen Orten wirkt der Kostenfaktor als Rotstift. Es gehe aber um die Zukunft jener Menschen, die in der Schweiz bleiben, warnte Martin Flügel. Er rechnete vor, dass für jedes Flüchtlingskind, das integriert werden soll, zwischen 100’000 und 130’000 Franken bereitgestellt werden müssen, damit die Integration erfolgreich durchgeführt werden könne. Nicht nur die Kantone, sondern auch der Bund sei gefordert, um diese Summen bereit zu stellen. Die jetzt anfallenden Kosten könnten später eingespart werde, wenn der Jugendliche arbeite und nicht von der Sozialhilfe abhängig werde.

 

Isabelle Müller, Christiana Mattli, Hugo Fasel, Martin Flügel (v.l.) | © Georges Scherrer
13. Juni 2017 | 15:14
Lesezeit: ca. 3 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!

Notfallpädagogik im Haus der Jugend

Seit einem Jahr betreibt Caritas Schweiz das «Haus der Jugend»  in Immensee. Die Betreuerinnen und Betreuer können dort einschlägige Erfahrungen sammeln. An der Pressekonferenz von Caritas Schweiz in Bern berichtete Christina Mattli, die dort als Lehrperson und Betreuerin wirkt, von ihren Erfahrungen. Die eingewiesenen asylsuchenden Jugendlichen sein zum Teil durchaus gewillt, zu lernen und die ihnen gebotene Chance zu nützen.

Diesen müsse aber zum Teil deutlich klargemacht werden, dass sie in der Schweiz sind und einige hier vorrangige Regeln befolgen müssen. Dazu gehöre etwa, dass man im Bus zahlt, Velo mit Helm fährt oder «Gleis 7» nur bei den SBB gültig ist. Mattli sprach von einer «Notfallpädagogik», die zu spielen komme. Jeder, vom Koch bis zum Abwart, bringe darum eine «sozialpädagogische Erfahrung» mit, so dass er im Fall des Falls entsprechende reagieren könne.

Im Haus ist der Besuch der internen Schule Pflicht. Sobald Deutsch und Mathematik einigermassen funktionieren, folgt der Wechsel in eine Integrationsklasse in Küssnacht LU und später in eine normale Schulklasse. Das Haus bemühe sich auch, soziale Kontakte nach Aussen zu knüpfen, etwa zu Sportvereinen oder in Form von Patenschaften zu Schweizer Familien.

Die Arbeit mit den traumatisieren Jugendlichen sei nicht immer einfach. Viel schwerer sei aber noch die berufliche Integration. Zu den Eignungstests der Brückenangebote würden nur Jugendliche mit F-Status  zugelassen. Viele Schnupperplätze könnten nur über persönliche Netzwerke organisiert werden.