Bettina Fredrich
Schweiz

«Kinder sind überdurchschnittlich von Armut betroffen»

Luzern, 18.11.18 (kath.ch) Vor allem ältere Leute und Kinder sind von der Armut betroffen. Für die einen bedeutet dies sozialen Ausschluss, für die anderen schlechte Chancen in der Berufseinstieg, sagt Bettina Fredrich, Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz, zum Welttag der Armen, den die katholische Kirche am 18. November begeht

Georges Scherrer

Ist Armut ein Phänomen, das alle Altersgruppen in der Schweiz trifft?

Bettina Fredrich: In der Schweiz sind derzeit 615’000 Menschen von Armut betroffen. Grundsätzlich kann Armut jeden und jede treffen. In der Realität tragen aber nicht alle das gleiche Risiko. Kinder sind überdurchschnittlich von Armut betroffen, besonders wenn die Eltern arm sind, weil sie ein tiefes Einkommen erwirtschaften oder weil sie schlecht ausgebildet sind. Ein grosses Armutsrisiko tragen auch Alleinerziehende, meist Mütter mit ihren Kindern

Armut entsteht dort, wo es schlecht möglich ist, Familie und Beruf zu vereinbaren oder wo der Vater oder die Mutter nur Teilzeit arbeiten kann. Dann reicht das Geld nicht, um über die Armutsgrenze hinaus zu kommen. Hier zeigt sich, wie wenig die Schweiz in Familien investiert. Darum sind Kinder hierzulande auch ein Armutsrisiko.

«Überdurchschnittlich arm sind aber auch Rentnerinnen und Rentner.»

Überdurchschnittlich arm sind aber auch Rentnerinnen und Rentner. Altersarmut ist eine Fortsetzung der Armut im erwerbsfähigen Alter. Oftmals sind Rentner und Rentnerinnen arm, weil sie es schon vorher waren. Sie arbeiteten etwa nur Teilzeit oder zu Tieflöhnen. Frauen sind öfter betroffen. Beispielsweise, weil sie die Kinder betreuten und ihre Erwerbsarbeit deshalb unterbrechen mussten.

«Es besteht die Gefahr der sozialen Isolation.»

Was bedeutet Altersarmut für die Betroffenen konkret?

Fredrich: Rentnerinnen und Rentner, die im Alter arm sind, können oft kaum an der Gesellschaft teilhaben. Oft droht der Ausschluss aus dem Gesellschaftsleben. Die Pflege von sozialen Kontakten wird schwieriger, wenn man sich den Kaffee im Restaurant nicht leisten kann. Es besteht die Gefahr der sozialen Isolation.

Wir beobachten heute aber auch besorgt, dass schon bei Personen ab 55 Jahren das Armutsrisiko markant steigt. Viele, die über 50 ihre Stelle verlieren, haben Schwierigkeiten, eine neue zu finden. Sei dies, weil sich die Berufsbilder stark verändern, weil die Betroffenen vielleicht schlecht ausgebildet sind, weil sie keine Weiterbildungen besuchen konnten oder über keine genügenden Grundkompetenzen verfügen.

Und was bedeutet Armut  für Kinder?

Fredrich: Neben der finanziellen Not beinhaltet ein Leben in Armut immer auch prekäre Lebensbedingungen in anderen Bereichen. So muss beispielsweise bei den Freizeitaktivitäten gespart werden. Konkret: Ein Kind kann sein Hobby nicht nach seinem Interesse oder seinem Talent aussuchen.

«Diese Kinder schaffen es auch nicht aufs Gymnasium.»

Die Wahlfreiheit ist erheblich eingeschränkt. Auch bei der Bildung sind armutsbetroffene Kinder benachteiligt. Weil sich die Eltern keinen Nachhilfeunterricht leisten können, schaffen es diese Kinder auch nicht aufs Gymnasium. Sie haben deshalb schlechtere Chancen im Berufsleben und eingeschränkte Zukunftsperspektiven.

Wie ist das: Wenn man in der Schweiz einmal in die Armut abgeglitten ist, geling der Ausstieg dann wieder?

Fredrich: Aus der Sozialhilfestatistik wissen wir: Ein Drittel der Leute können sich innerhalb eines Jahres wieder von der Sozialhilfe ablösen. Voraussetzung dafür ist eine Arbeitsstelle mit einem existenzsichernden Lohn.

Nicht allen aber ist dies möglich. Betreuen Armutsbetroffene beispielsweise Kinder oder sind sie schlecht ausgebildet, bleiben sie oft länger auf Sozialhilfe angewiesen. Erst eine qualifizierende Weiterbildung oder eine Entlastung bei den Betreuungspflichten kann ihre Situation verbessern.

«Kreditinstitute sind verpflichtet, die Kreditwürdigkeit der Kunden zu überprüfen.»

Beides ist oft unerreichbar. Kommt hinzu: Häufig bleiben Betroffene auch nach dem Ablösen aus der Sozialhilfe in prekären Verhältnissen knapp oberhalb der Armutsgrenze, in der schon kleine Kostensteigerungen beispielsweise der Wohnungsmiete oder der Krankenkassenprämie sie wieder in die Armut zurückführt.

Was sind gefährliche Armutsfallen in der Schweiz?

Fredrich: Das grösste Armutsrisiko haben heute Alleinerziehende und Niedrigqualifizierte. Wenn nach einer Scheidung plötzlich zwei Haushalte finanziert werden müssen oder wenn Menschen ohne nachobligatorische Bildung ihre Arbeitsstelle verlieren, ist das Risiko in Armut abzurutschen gross. Wenn die Wirtschaft ins Stocken gerät, kann sich dieses Phänomen schnell akzentuieren.

Ist der Kauf von Luxusgütern oder die Aufnahme von Kleinkrediten ein Armutsrisiko?

Fredrich: Grundsätzlich sind Kreditinstitute gesetzlich verpflichtet, die Kreditwürdigkeit der Kunden systematisch zu überprüfen und nur dann einen Kredit zu gewähren, wenn die Leute auch die finanziellen Möglichkeiten haben, diese Kredite zurückzuzahlen. Das tun aber nicht alle. Mitunter wird die finanzielle Not von Menschen ausgenutzt und sie werden durch Kleinkredite in eine Schuldenfalle manövriert.

«Der Welttag gegen Armut bietet die Möglichkeit, Armut sichtbar zu machen.»

Seit 1992 gibt es jeweils im Oktober den Uno-Welttag für die Beseitigung der Armut. Die katholische Kirche begeht dieses Jahr den Welttag der Armen am18. November. Haben diese Gedenktage zu einem Umdenken in der Schweiz geführt?

Fredrich: Der Welttag gegen Armut ist ein kleiner Schritt. Zum grossen Umdenken hat er nicht geführt. Er bietet aber die Möglichkeit, Armut immer wieder sichtbar zu machen und über sie zu sprechen. Der Tag der Armut erwirkt eine gewisse Aufmerksamkeit und das ist bei diesem Thema zentral. Einerseits vor dem Hintergrund, dass das Thema Armut in der Politik an den Rand gedrängt wird. So hat beispielsweise der Bund dieses Jahr beschlossen, sein finanzielles Engagement im Kampf gegen die Armut auf ein Minimum zu reduzieren. Andererseits verfügen Armutsbetroffene auch über keine politische Lobby, die sich für sie einsetzt. Deshalb hat der Tag gegen die Armut seine besondere Wichtigkeit.

 

Bettina Fredrich | © Georges Scherrer
18. November 2018 | 14:52
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