Thomaskantor Andreas Reize
International

Katholik in Solothurn, Lutheraner in Leipzig: Thomaskantor Andreas Reize ist konvertiert

Beim Solothurner Knabenchor wäre Andreas Reize im Allerheiligen-Modus. Als Thomaskantor in Leipzig ist für ihn der Reformationstag heilig. 2021 konvertierte der Schweizer Dirigent. Er kritisiert die Neiddebatte unter Schweizer Organisten: Die Besten sollten zum Zug kommen – und nicht «Quotenschweizer».

Raphael Rauch

Es gab scharfe Kritik an Ihrer Ernennung: Ein Nicht-Thomaner kann doch nicht Thomaskantor werden! Erst recht nicht, wenn er Schweizer ist und Katholik! Mittlerweile haben sich die Wogen geglättet. Wie haben Sie das geschafft?

Andreas Reize*: Durch gute Arbeit! Es läuft hier hervorragend. Die Jungs sind begeistert, die Eltern ebenfalls. Es läuft richtig gut.

Früher in Solothurn, jetzt in Leipzig: Andreas Reize.
Früher in Solothurn, jetzt in Leipzig: Andreas Reize.

Sie sind seit einem Jahr in Leipzig. Sie haben kurz vor der Omikron-Welle Ihr Amt angetreten. Können Sie inzwischen ganz entspannt proben?

Reize: Im Vergleich zum letzten Jahr schon. Wir testen zurzeit jeden Montag und jeden Freitag. Und wenn wir auf Reisen sind, testen wir jeden Tag. Glücklicherweise können wir wieder alle zusammen proben und auftreten – und nicht, wie teilweise im Omikron-Winter, nur zu acht.

«An diesem Wochenende führen wir die h-Moll-Messe auf.»

Wären Sie in Solothurn, müssten Sie sich jetzt auf Allerheiligen vorbereiten. Was machen Sie heute am Reformationstag? 

Reize: Gegeben wäre «Gott ist unsere Zuversicht und Stärke», Psalm 46 – das haben wir vor einem Jahr gemacht. Heute hingegen bringen wir Teile aus der h-Moll-Messe, da am kommenden Samstag und Sonntag grosse Konzerte anstehen. Wir bringen heute, am Reformationstag, das Gloria aus der h-Moll-Messe und Teile aus dem Credo. An diesem Wochenende führen wir dann die h-Moll-Messe mit dem Gewandhausorchester in der Thomaskirche auf. 

Andreas Reize dirigiert den Leipziger Thomanerchor.
Andreas Reize dirigiert den Leipziger Thomanerchor.

Warum sind Sie konvertiert?

Reize: Für mich ist die Thomaskirche meine neue Heimat. Ich verbringe hier so viel Zeit – da fände ich es absurd, Mitglied in einer anderen Kirchgemeinde zu sein. Seit Juli 2021 bin ich Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde von St. Thomas in Leipzig und Mitglied im Kirchenvorstand.

Gab es Druck, Protestant zu werden?

Reize: Nein, überhaupt nicht!

Thomas Ruckstuhl, Stadtpfarrer von Solothurn.
Thomas Ruckstuhl, Stadtpfarrer von Solothurn.

Vermissen Sie den Weihrauch, das Ave-Maria?

Reize: Nein (lacht). Ich habe in Solothurn schon als Ministrant so viel Weihrauch eingeatmet – das reicht erst mal. Ich bin ein grosser Fan von Thomas Ruckstuhl, dem Kathedralpfarrer von Solothurn. Er ist ein hervorragender Seelsorger und Prediger. Wir hatten eine gute Zeit. Aber jetzt hat bei mir ein neues Kapitel begonnen.

«Ein Sänger ist von Solothurn nach Leipzig gewechselt.»

Merken Sie, dass Leipzig auch musikalisch in einer anderen Liga spielt als Solothurn?

Reize: Ja klar. Der Thomanerchor ist etwas Einmaliges. In dieser Intensität und Professionalität gibt es das in der Schweiz nicht – aber wohl auch sonst auf der Welt nicht. Wobei auch der Solothurner Knabenchor sehr gut ist. Ein Sänger ist von Solothurn nach Leipzig gewechselt. 

Thomaskantor Andreas Reize.
Thomaskantor Andreas Reize.

Was ist der grösste Unterschied?

Reize: Der grösste Unterschied spielt sich im Sozialen ab. Ich sehe die Jungs jeden Tag. Wir sind eine Art Grossfamilie. Wir essen zusammen, spielen Fussball und unterhalten uns in den Pausen auch über ausserchorische Dinge. Ich bin für die Knaben Lehrer und Vaterfigur zugleich. Ich bin interessiert an den Jungs, lasse mich gern auf sie ein, weiss aber auch, dass höchste Professionalität im Umgang mit Nähe und Distanz gefordert ist. Ein weiterer Unterschied ist die Diversität.

Wie divers sind die Thomaner? Klassische Gesangsausbildung ist meistens etwas für Kinder reicher, weisser Eltern.

Reize: Wir haben hier verschiedene Nationen vertreten und sind sehr international.

Andreas Reize
Andreas Reize

Haben Sie manchmal noch Lampenfieber?

Reize: Eine h-Moll-Messe zu dirigieren ist sehr anspruchsvoll. Da stehe ich schon unter Strom. Ich versuche, die Anspannung positiv auf die Musik und auf die Jungs zu übertragen. Lampenfieber hat ja auch etwas Gutes: man konzentriert sich, ist ganz bei der Sache. Eine gewisse Anspannung ist wichtig, um Spitzenleistungen zu erbringen. Auch bei «Poppea» in Solothurn war ich aufgeregt.

«Ich bin ein Opernfan und werde daher noch alle zwei Jahre eine Oper im Schloss Waldegg dirigieren.»

Was hat es mit «Poppea» auf sich?

Reize: Ich bleibe Solothurn noch etwas erhalten. Wir haben «Poppea» von Monteverdi inszeniert. Das ist jetzt frisch im September als CD erschienen und hat grosse Begeisterung ausgelöst. Ich bin ein Opernfan und werde daher noch alle zwei Jahre eine Oper im Schloss Waldegg dirigieren. Das ist ein Solothurner Barockschloss aus dem 17. Jahrhundert. Bei schlechtem Wetter müssen wir in den Konzertsaal ausweichen.

Können Sie eigene Akzente setzen? Oder geht es bei den Thomanern vor allem darum, die Tradition weiterzuführen?

Reize: Natürlich geht es auch um Tradition und um das Erbe von Johann Sebastian Bach. Aber hier und da sind sehr wohl Akzente möglich. Wir haben erst kürzlich zwei Kompositionsaufträge vergeben, denn auch die Neue Musik ist Teil unseres Auftrags. Es vergeht kein Konzert, ohne dass wir etwas Neues aufführen. Das war schon immer die Aufgabe der Thomaner – und ist es auch unter meiner Leitung. 

«Ich finde bei Bach nicht nur den musikalischen, sondern auch den theologischen Aspekt spannend.» 

Was haben Sie in den letzten Monaten Neues über Bach gelernt?

Reize: Ich lerne jeden Tag etwas Neues über Bach! Wir führen ja fast jede Woche eine neue Kantate auf. Ich finde nicht nur den musikalischen, sondern auch den theologischen Aspekt spannend. Eine Bach-Kantate ist immer mit der Theologie der damaligen Zeit verbunden. Bach hat für bestimmte Festtage und für die Sonntage im Kirchenjahr komponiert und dabei immer Bezug zur entsprechenden Lesung genommen, also zum Sonntagsevangelium oder zu den Episteln. 2017 wurde allerdings die Perikopen-Ordnung geändert. 

Johann Sebastian Bach – Denkmal vor der Leipziger Thomaskirche.
Johann Sebastian Bach – Denkmal vor der Leipziger Thomaskirche.

Und was heisst das für Sie?

Reize: Es kann sein, dass wir samstags etwas aufführen, was gar nichts mit dem Sonntagsevangelium zu tun hat. Deswegen sprechen wir uns mit der Pfarrperson gut ab, damit wir im Dialog eine Einheit von Musik und Wort schaffen können.

Sind Sie als Dirigent eine Art Projekt-Manager?

Reize: In gewisser Weise schon. Ich bin im Hier und Jetzt, also gerade ganz bei der h-Moll-Messe. Auf meinem Schreibtisch liegen aber auch schon die Epiphanias-Kantaten für die Zeit nach Weihnachten. Ich muss mich gut organisieren, um Bach zu durchdringen. Ich husche nicht schnell über die Noten, sondern setze mich auch mit der Bach-Forschung auseinander. Ich schaue immer die Autographe an, also: Was hat Bach hierzu notiert? Praktisch ist: Die Bach-Forschung hat alles digital erschlossen, ich kann mir das unkompliziert am PC anschauen. In Leipzig sind auch führende Bach-Forschende. Wir tauschen uns regelmässig aus, das ist sehr stimulierend.

Was beschäftigt Sie musikalisch sonst noch – ausser Bach?

Reize: Wegen meiner Opern-Erfahrung habe ich auch ein Faible für Dramaturgie. Ich schaue mir zum Beispiel Bachs Oratorien oder seine Passion unter einer dramaturgischen Brille an – und versuche das entsprechend umzusetzen.

Der Organist Wolfgang Sieber.
Der Organist Wolfgang Sieber.

Immer wieder machen Organistinnen und Organisten in der Schweiz Stimmung gegen Deutsche. Sie fühlen sich strukturell benachteiligt, weil viele Prestige-Posten in der Schweiz mit Deutschen besetzt wurden. Wie sehen Sie das?

Reize: Ich bin als Schweizer Thomaskantor geworden und fühle mich nicht strukturell benachteiligt. Die Person soll gewählt werden, die am besten dafür geeignet ist. Für alle wichtigen Posten in der Schweiz gibt es Auswahlkommissionen, zum Teil betreiben die Findungskommissionen grossen Aufwand. Und da geht es nicht nur um technisches Können, sondern auch um die Persönlichkeit der Kandidatinnen und Kandidaten. Es wäre ein Armutszeugnis, wenn die Auswahlkommissionen nicht die besten nehmen dürfte, sondern einen Quotenschweizer.

Die Kathedrale St. Urs und Viktor in Solothurn
Die Kathedrale St. Urs und Viktor in Solothurn

Tut das Bistum Basel genügend für die Kirchenmusik?

Reize: Das Bistum Basel ist ein tolles Bistum. Das, was Papst Franziskus mit dem synodalen Prozess anstösst, ist im Bistum Basel zum Teil schon umgesetzt: Partizipation bei der Bischofswahl. Man merkt dem Bistum Basel an, dass hier keine Hardliner im Ordinariat sitzen. Mit Bischof Felix Gmür haben wir grosses Glück. Von Seiten des Bistums gab’s genügend Wertschätzung. 

«Ich liebe die Berge und fahre gerne Velo.»

Vermissen Sie die Schweiz?

Reize: Landschaftlich auf jeden Fall. Ich liebe die Berge und fahre gerne Velo. In Solothurn habe ich am Fusse des Juras gewohnt. Da war es schön, sich schnell aufs Velo zu schwingen und ein paar Höhenmeter hinter sich zu lassen. Das ist hier so nicht möglich.

* Der Schweizer Dirigent Andreas Reize (47) stammt aus Solothurn. Er war langjähriges Mitglied der Singknaben der St. Ursenkathedrale Solothurn und hat diese von 2007 bis 2021 selbst geleitet. Seit 2021 steht er in der Nachfolge von Johann Sebastian Bach als Thomaskantor in Leipzig. Er ist der erste Nicht-Deutsche und er war zum Stellenantritt der erste Katholik auf diesem Posten.


Thomaskantor Andreas Reize | © Jens Schlueter
31. Oktober 2022 | 17:47
Lesezeit: ca. 6 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!