Filmstill aus «Le ciel attendra – Der Himmel wird warten» © Agora/Filmcoopi
Schweiz

«Ich habe muslimische Gebete und Rituale gelernt»

Zürich, 3.4.17 (kath.ch) Über junge Männer, die für den Krieg in Syrien rekrutiert werden, gibt es viele Newsbeiträge und Videos. Nun thematisiert der französische Film «Le ciel attendra» die Rolle von jungen westlichen Frauen in diesem Konflikt. Kath.ch hat mit der katholischen Schauspielerin Noémie Merlant gesprochen: über ihre Erfahrungen in der Rolle einer muslimischen Konvertitin, über den Islam und die spirituellen Bedürfnisse von jungen Frauen. Der Film startet am 6. April in den Schweizer Kinos.

Charles Martig

Welche Herausforderung war es für Sie, die Rolle von Sonia zu spielen?

Noémie Merlant: Die Dreharbeiten begannen im November 2015, genau drei Tage nach dem Attentat in Paris. Ich kannte die Rolle aus dem Drehbuch und war mir bewusst, dass es eine komplexe Figur ist. Es geht um eine Aktualität, die nicht einfach zu verstehen ist. Man spricht darüber in den Medien, aber es gibt keine emotionale Annäherungsweise an diese Mädchen, die für den IS rekrutiert werden.

Mit einer guten Distanz wird es möglich, den Dialog in den Mittelpunkt zu stellen, die Sinnfragen und die Bedeutung dieser Ereignisse für die Gesellschaft. Es geht auch um die Jugend, insbesondere darum, ihnen eine Stimme zu geben und sie darüber sprechen zu lassen.

War das Drehbuch festgelegt, oder konnten Sie selber Aspekte und Themen in die Rolle einbringen?

Merlant: Es gab Improvisationen. Die Person, die ich spiele, habe ich durch viele Gespräche mit betroffenen jungen Frauen und ihren Familien erarbeitet. Es gibt ein gesellschaftliches Unbehagen gegenüber dem Konsum, gleichzeitig das Bedürfnis nach einer reinen Liebe. Es gab Frauen, die mir von ihrer Spiritualität erzählt haben; in Wirklichkeit waren sie auf der Suche nach dem Sinn in ihrem Leben.

Frauen haben mir von ihrer Spiritualität erzählt

Zu diesem Aspekt der Spiritualität: Welche Motivation gibt es bei jungen Frauen in Frankreich, sich für den IS zu engagieren?

Merlant: Es gibt einen spirituellen oder religiösen Anteil. Einige Mädchen kommen aus einer muslimischen Kultur, haben aber ihre konkrete religiöse Praxis verloren. Andere sind nicht-praktizierende Katholikinnen, Jüdinnen und Atheistinnen. Ihnen fehlen Antworten nach dem Sinn des Lebens und des Todes. Das ängstigt sie. Die Welt bewegt sich zudem in grosser Geschwindigkeit: es handelt sich um ein ständiges «Zapping», mit der Jagd nach Anerkennung und Reichtum. Da stellen sich viele junge Frauen in der Schule die Frage, wozu dies alles gut ist.

Geht es auch um das Selbstbild der Frauen?

Merlant: Der Film beschäftigt sich mit der Freiheit von Frauen in der Gesellschaft, die auch bei uns nicht zufriedenstellend gelöst ist. Die Frauen stehen unter grossem Druck: sie arbeiten und kümmern sich gleichzeitig um die Kinder. Das kann zu einer Gegenbewegung führen. Zu viel Freiheit macht Angst und schafft Widersprüche. Da ist es einfacher, in einer klaren Ordnung zu leben.

Wie kann es geschehen, dass sich junge Frauen aus der offenen Gesellschaft westlichen Stils zurückziehen und zu einer strengen Religiosität konvertieren?

Merlant: Man sieht in den Propaganda-Videos Fragestellungen, die sich auf wahre Probleme beziehen. Durch soziale Netzwerke werden diese Videos verbreitet und verstärken die Ängste der jungen Frauen. IS-Leute nutzen die Gelegenheit und bauen Beziehungen zu ihren Opfern auf. Sie verdrehen ihnen den Kopf. Dies führt zu einer zunehmenden Abhängigkeit. Die Gruppe ersetzt das Individuum. Mit hunderten von Botschaften pro Tag wird so eine eigene soziale Welt aufgebaut. Herz und Kopf dieser Mädchen werden durch diese Propaganda manipuliert.

IS-Leute bauen Beziehungen zu ihren Opfern über Soziale Medien auf

Es gibt im Film die Unterscheidung zwischen freier Gewissensentscheidung und Gehirnwäsche. Ist das eine Hauptbotschaft des Films?

Merlant: Viele dieser Mädchen wissen überhaupt nichts vom Islam. Viele lernen Gebete, die sie nicht verstehen. Sie tun einfach, was ihnen aufgetragen wird. Sie sind in dieser religiösen Welt gefangen. Es gibt darüber hinaus auch viele, die sich verlieben. Der IS-Mann wird zu einer Art «Prinz». Das führt zu Träumereien. Bei anderen gibt es eine spirituelle Suche, ein Forschen nach Gott und einem reinen Leben, das in vollständigem Gegensatz zu unserer modernen Gesellschaft steht. Das ist natürlich überhaupt nicht das, was sie in Syrien im Krieg finden.

Die Verbindung zwischen dem Islam und der Ideologie des IS ist also reine Propaganda?

Melant: Der IS hat überhaupt nichts mit Religion zu tun. Der Islam wird für die Propaganda und die Rekrutierung instrumentalisiert. Das Wort «Djihad» bedeutet ursprünglich den Kampf gegen die eigenen inneren Feinde. Der IS hat diesen Wortsinn vollständig umgekehrt und pervertiert.

Haben Sie für die Rolle von Sonia muslimische Gebete und Rituale gelernt?

Merlant: Ja, aber nicht nur für die Rolle, sondern auch für mich selbst. Ich wollte auch einen Imam treffen, der nicht diesen fundamentalistischen Ansatz des Islam vertritt. Ich habe mir auch viel dokumentarisches Material angeschaut.

Welche Beziehung haben Sie zum Islam nach diesem Film?

Merlant: Ich kannte den Islam vorher gar nicht. Was man am Fernseher sieht und hört, führt vielfach zu einer Konfusion. Ich selber bin Katholikin und meine, dass es nicht sein kann, die terroristischen Akte mit dem Islam zu vermischen. Das führt nur zur Verletzung von praktizierenden Muslimen. An der Basis sind christliche und islamische Ansichten vergleichbar. Sie beziehen sich auf Werte wie Frieden und Toleranz.

Ich kannte den Islam vorher gar nicht

Welche Rolle haben Frauen im Koran aufgrund Ihrer Recherchen?

Merlant: Das Bild der Frau im Koran, soweit ich es verstanden habe, beruht auf der Freiheit. Sie soll Zugang haben zur Bildung und zur Kultur, genau wie der Mann. Das zeigt, dass zur Zeit der Entstehung des Korans das Bestreben vorhanden war, die Frau aufzuwerten. Es handelt sich um ein schönes Bild, wie Frauen sein sollten, was sie werden können. Dies steht im Gegensatz zu einigen Interpretationen, die der Frau eine ganz andere, untergeordnete Rolle zuschreiben. In Gesprächen mit Imamen habe ich diese Freiheit, die Gleichheit und dieses Wohlwollen erfahren. (rp)

Medientipp «Le ciel attendra – Der Himmel wird warten»

 

Filmstill aus «Le ciel attendra – Der Himmel wird warten» © Agora/Filmcoopi
3. April 2017 | 10:30
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Filmtipp

«Le ciel attendra» wendet sich dem Phänomen von Mädchen und jungen Frauen zu, die in Frankreich für den Krieg in Syrien angeheuert werden. Als Premiere auf der Piazza Grande in Locarno lanciert, kommt der Film nun in die Schweizer Kinos. Die Botschaft: Es gilt zu unterscheiden zwischen einem freien Entscheid zum islamischen Glauben und einer aufgezwungenen Wahl durch Rekrutierer im Namen des IS. Die Geschichten von Sonia und Mélanie, die in Retrospektiven gezeigt werden, sind erschütternd. Die Regisseurin zeigt die machtlosen Eltern in Therapien und Selbsthilfegruppen. Der Schrecken des Krieges hat die Familien in Westeuropa erreicht und ist bis ins Innerste vorgedrungen.