Josef Hochstrasser ist Fussballfan und reformierter Pfarrer.
Schweiz

«Hooligans brauchen Zuwendung, Strafen allein bringen nichts»: Seelsorger zu Fussball-Randalen

In der Schweiz sorgten jüngst Fussballfan-Krawallschlachten in Luzern mit Verletzten für Ärger und Betroffenheit. Fans sollen künftig ausgesperrt und mit drakonischen Strafen belegt werden. In Deutschland bahnt sich in der Bundesliga derweil eine sportliche Revolution an. Pfarrer Josef Hochstrasser (76) ist Fussballfan und überrascht mit Ideen.

Wolfgang Holz

Leuchtet der Himmel über Ihnen derzeit gelbschwarz? Sie sind seit Jahren eingefleischter BVB-Fan, und am Samstag könnte Borussia Dortmund nach zehn Jahren Bayern-Dominanz deutscher Fussballmeister werden.

Josef Hochstrasser*: Ja, das ist völlig richtig. Die gelb-schwarze Hoffnung ist lange Zeit brachgelegen. Aber ich empfinde derzeit natürlich nicht nur eine grosse Vorfreude, was die Fussball-Bundesliga angeht. In der Schweizer Super-League haben die Berner Young Boys ja bereits triumphiert, für die ich auch fane. Für mich leuchtet der Fussballhimmel deshalb momentan doppelt schwarz-gelb.

Ottmar Hitzfeld, früher Trainer bei Borussia Dortmund sowie der Schweizer Nati, ist ein Freund von Josef Hochstrasser.
Ottmar Hitzfeld, früher Trainer bei Borussia Dortmund sowie der Schweizer Nati, ist ein Freund von Josef Hochstrasser.

Für Ihre Liebe zu Gelb-Schwarz ist eigentlich ein Fussballpromi mitverantwortlich…

Hochstrasser: Stimmt. Als Fussballtrainer Ottmar Hitzfeld vor zig Jahren noch den FC Aarau trainierte und er meine Messen am Sonntag in Oberentfelden besuchte, kam er einmal nach dem Gottesdienst zu mir. Er meinte, er habe noch nie so eine spezielle Predigt gehört. Er lud mich darauf zum Abendessen ein. In der Folge entwickelte sich eine jahrzehntelange Freundschaft zwischen uns. Mit der Konsequenz, dass ich dank der VIP-Karten, die er mir schenkte, oft in Dortmund und in München im Stadion war. In Dortmund fühlte ich mich irgendwie immer wohler. Hitzfeld trainierte ja zuerst Borussia Dortmund, dann den FC Bayern München, bevor er Schweizer-Nati-Coach wurde.

Wie wichtig wäre es denn, nicht nur aus rein fussballerischen Aspekten, dass Dortmund Meister wird?

Hochstrasser: Das wäre in der Tat sehr wichtig. Auch gesellschaftspolitisch wäre dies ein Signal. Denn im Vergleich zu Bayern München verkörpert Borussia Dortmund noch eine gewisse Bescheidenheit. Das Team hat es ohne Skandale und Grossmaulgehabe nach oben geschafft. Auch wenn natürlich Dortmund selbst längst zum Millionenklub geworden ist, strahlt der Verein im Vergleich zu den Bayern noch eine Art Bodenständigkeit aus. Dieses Verhalten wurzelt im Ruhrpott, wo die Menschen jahrzehntelang hart im Kohlebergbau unter Tage malochen mussten.

Gelbschwarz durch und durch: Josef Hochstrasser
Gelbschwarz durch und durch: Josef Hochstrasser

«Selbstverständlich dürfen Fussballfans für den Sieg ihrer Mannschaft beten.»

Noch ist Dortmund nicht Meister. Viele Fans beten um den Erfolg. Darf man als Christ überhaupt um einen Sieg beten? Denn das bedeutet umgekehrt, dass man der anderen Mannschaft eine Niederlage wünscht.

Hochstrasser: Selbstverständlich dürfen Fussballfans für den Sieg ihrer Mannschaft beten. Der liebe Gott wird dabei schmunzeln und sich das Ganze gelassen von oben anschauen. Er wird beiden Mannschaften helfen und sich nicht auf eine Seite schlagen, sonst kommt er als gerechter Gott in die Bredouille. Dass Fussballfans um den Beistand einer höheren Macht bitten wollen, ist verständlich. Schliesslich können sie selbst keine Tore schiessen und das Ergebnis nicht beeinflussen. Das Schicksal durch ein Gebet mitbestimmen zu wollen ist deshalb nicht unfair, sondern ein Ausdruck von Hoffnung und Hilflosigkeit.

Da hilft nur noch beten.
Da hilft nur noch beten.

Viele Spieler bekreuzigen sich, wenn sie das Spielfeld betreten. Viele Fans falten die Hände, wenn es eng wird, wenn es um Sieg oder Niederlage ihrer Mannschaft geht. Wie präsent und wie wichtig ist Religion im Fussball aus Ihrer Sicht?

Hochstrasser: Fussball ist selbst eine Form von Religion. Denn Fussball erfüllt dabei ähnliche Funktionen wie die Religion: Er stiftet Lebenssinn und verleiht den Menschen Orientierung. Ich habe in Dortmund mal eine Frau getroffen, die voller Inbrunst sagte, dass der BVB ihre Religion sei. Es gibt sogar einen Fussballgott. Der ist allerdings eine komische Karikatur im Vergleich zum religiösen Gott, der mehr Anstand, Scheu und Respekt auslöst. Dass Spieler sich bekreuzigen, wenn sie das Spielfeld betreten, halte ich eher für eine oberflächliche Verlegenheitsgeste. Unterm Strich kommt es auf die Ernsthaftigkeit an, mit der sie sich der Religion zuwenden.

Friedliche Fans: Autokorso in der Zürcher Langstrasse
Friedliche Fans: Autokorso in der Zürcher Langstrasse

Szenenwechsel. In der Schweiz schwappt die Begeisterung der Fans immer wieder in Gewalt und Randale um. Zuletzt gab es in Luzern schwere Ausschreitungen mit Verletzten. Was sagen Sie dazu als Seelsorger?

Hochstrasser: Solch ein Verhalten ist höchst bedauerlich. Allerdings sollte man auch hinter die Kulissen schauen, um zu verstehen, warum es zu derartigen Ausschreitungen kommt. Offensichtlich sind Personen, die sich so gewaltbereit verhalten, mit ihrem Leben nicht zufrieden und stellen dies dann in ihrer Aussenwelt auf chaotische und aggressive Weise dar. Eine andere Variante, derartige Unzufriedenheit auszudrücken, kann in persönliche Depression münden. Allerdings gibt es auch Ursachen für solche Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft. Es herrscht eine starke Orientierungslosigkeit unter den Menschen. Soziale Ungerechtigkeit. Armut. Alles ist möglich. Dies verwirrt und verunsichert viele.

Hooligans: Fußballfans mit einer Leuchtfackel und Fahnen.
Hooligans: Fußballfans mit einer Leuchtfackel und Fahnen.

Helfen nur drakonische Verbote und Strafen? Oder was könnte man noch tun, um die Hooligan-Gewalt im Fussball einzudämmen?

Hochstrasser: Es bräuchte Therapien der aufwändigen Art, um mit diesen Leuten umzugehen. Man muss mit solchen Menschen vor allem auch reden. Nach einem Spiel des FC Aarau, bei dem 20 bis 30 Hooligans aufs Feld geströmt sind, hat sich der Präsident tags darauf einen der Rädelsführer ausgeguckt und ihn zu einem persönlichen Gespräch vorgeladen. Das war ein sehr cleverer Schachzug. Denn alle Menschen wollen gehört werden. Vor allem sollte man mit den Bossen von gewaltbereiten Gruppen sprechen, um auf deren Mitglieder dann Einfluss nehmen zu können. Auch Hooligans brauchen Zuwendung. Strafen allein bringen nichts. Da kommt bei mir sicher der Seelsorger durch.

«Vielen Menschen in unserer Gesellschaft geht es eben gar nicht so gut. Viele fühlen sich überfordert, orientierungslos, frustriert, vereinsamt oder sogar isoliert.»

Könnten Sie sich denn vorstellen, als Pfarrer vor einem Spiel zu den Fans zu sprechen, um diese zu beruhigen?

Hochstrasser: Ja, warum nicht. Man bräuchte aber auch einen Namen, damit Fans und Spieler einem zuhören. Und die Präsidenten beider Klubs müssten hinter einer solchen befriedenden, sakralen Versöhnungsaktion stehen. Ebenfalls muss man die Spieler ins Boot holen. Ich könnte mir dann beispielsweise vorstellen, dass sich beide Mannschaften am Mittelkreis aufstellen, und dass ich dann ein paar Worte an die Spieler und die Fans richte. Vielleicht in Kombination mit einem kurzen Gebet und einer Segnung. So eine spirituelle Aktion wäre durchaus einen Versuch wert. Man könnte auch einen Imam für muslimische Spieler hinzubitten.

Pyros: Die Fackeln der Hooligans
Pyros: Die Fackeln der Hooligans

Muss man die Gewalt im Fussball auch als eine Form gesellschaftliche Konfliktbewältigung sehen? Schliesslich richtet sich die Gewalt von Hooligans nicht nur gegen die Fans anderer Clubs, sondern auch gegen die Polizei und den Staat, wenn es zu Strassenschlachten kommt.

Hochstrasser: Absolut. Wie gesagt, geht es vielen Menschen in unserer Gesellschaft eben gar nicht so gut. Viele fühlen sich überfordert, orientierungslos, frustriert, vereinsamt oder sogar isoliert. Viele Menschen haben eine Sehnsucht, anerkannt zu werden, gehört zu werden. Irgendwo bricht sich dieser Frust dann Bahn – unter anderem in solchen Krawallen.

Fussball kann wie eine Erlösung sein: Der argentinische Fussballstar und WM-Sieger Lionel Messi.
Fussball kann wie eine Erlösung sein: Der argentinische Fussballstar und WM-Sieger Lionel Messi.

Die Schweizer Fussballiga ist international betrachtet eher marginal in ihrer sportlichen Bedeutung. Was die Fan-Gewalt angeht, sieht es deutlich dramatischer aus. Hat die Schweiz ein Kontrollproblem? Sprich: Fühlen sich Menschen einerseits zu sehr gesellschaftlich reglementiert und kontrolliert? Andererseits: Reagieren Behörden zu lasch auf solche Gewalt und schreiten zu wenig vehement ein?

Hochstrasser: Ich glaube nicht, dass sich Schweizerinnen und Schweizer zu sehr vom Staat und der Gesellschaft kontrolliert und reglementiert fühlen. Ich denke, sie fühlen sich eher frei – auch wenn es sicherlich übertrieben ist – wie in manchen Statistiken behauptet wird – dass Schweizerinnen und Schweizer zu den glücklichsten Menschen der Welt zählen. Was die Behörden betrifft, fehlt sicherlich oftmals der Mut, Flagge zu zeigen und konsequent einzuschreiten. Was das Thema Pyros angeht, die sehr gefährlich sind im Stadion, müsste man vielleicht über andere Sicherheitskonzepte bei der Fan-Kontrolle nachdenken.

Was ist eigentlich das Erlösende am Fussball?

Hochstrasser: (lacht) Das ist natürlich ganz klar der Sieg der eigenen Mannschaft!

*Josef Hochstrasser wurde 1947 geboren und wohnt in Oberentfelden AG. Er studierte katholische Theologie, war Schweizergardist und wurde 1973 zum katholischen Priester geweiht. Später konvertierte er – nachdem er seine spätere Ehefrau Elisabeth kennen lernte, mit der er nun seit 47 Jahren verheiratet ist – zum reformierten Glauben. Seit 1989 ist er reformierter Pfarrer. Er war auch jahrelang Religionslehrer an der Kantonsschule Zug. In Steinhausen ZG hält der pensionierte Seelsorger einige Mal pro Jahr noch Gottesdienste ab. Bis vor kurzem spielte er noch in einer Plauschmannschaft Fussball.


Josef Hochstrasser ist Fussballfan und reformierter Pfarrer. | © Wolfgang Holz
26. Mai 2023 | 06:54
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