Standbild von Père Girard in der Freiburger Altstadt
Schweiz

Gotthelf jammerte, Père Girard unterrichtete – Europarat ehrt den Verjagten

Freiburg i.Ü., 13.10.15 (kath.ch) Junge Forscher wollen, dass die vom Freiburger Pädagogen Grégoire Girard, bekannt als Père Girard, gelehrten Werte besser bekannt werden. Der Franziskaner wurde 1823 aus Freiburg verjagt. Das Kolloquium «Girard 2015» von Mitte September in Freiburg war dem Schulreformer gewidmet. Kath.ch hat mit verschiedenen Referenten über die Bedeutung des Priesters für die Schule von heute gesprochen. Der Europarat hat den Schweizer in den künftigen «Kulturweg Helois» aufgenommen.

Georges Scherrer

Père Girard (1765-1850) hat als «Stiller» die Welt verändert, sagte der heutige Guardian des Franziskanerklosters in Freiburg, Pascal Marquard, am Kolloquium. Girard habe aus der «Glasglocke des Kirchlichen» herausgefunden, erklärte der Pater weiter. Sein Beispiel ermuntere die Franziskaner in Freiburg, deren Gemeinschaft immer weniger Mitglieder zählt, «durchzuhalten». Girard habe vieles hinterlassen und gezeigt, dass die Ordensleute eine Zukunft haben.

Marquard schlug eine Brücke zu einem weiteren berühmten Schweizer Pädagogen, Heinrich Pestalozzi (1746-1827). Mit diesem habe Girard einiges verbunden. Beide seien gegen die Körperstrafe für Schüler gewesen und hätten sich bemüht, die Jugend auf den Weg der «Sittlichkeit» zu führen. Girards Lehransatz fand in Freiburg aber nicht nur Freunde. Sein Einsatz sei innerhalb der Kirche unterschiedlich wahrgenommen worden, was zu geteilten Meinungen über den Pädagogen führte. Der Priester wurde 1823 aus der Stadt verjagt.

Vertieft mit der Person Girards hat sich der Freiburger Beat Bertschy befasst, Lektor für Allgemeine Didaktik an der Universität Freiburg. Er hat soeben das Buch ” Gregor Girard – Der wechselseitige Unterricht» herausgegeben und ist zudem Autor des Pater-Girard-Wegs, der auf den Spuren des katholischen Pädagogen durch die Altstadt von Freiburg führt.

Bertschy schildert den geistlichen Pädagogen als praktischen Schulreformer. Während fast zwanzig Jahren, von 1804 bis 1823, leitete dieser eine Knabenschule in Freiburg. Er produzierte selber die Lehrmittel, schuf gleichzeitig theoretische Werke und erlitt dann Schiffbruch.

Das «Kolloquium Girard 2015» ging den Gründen dafür ausführlich nach. Sein Engagement für die Zweisprachigkeit im deutsch- und französischsprachigen Kanton könnte angeeckt haben, meint Bertschy. Girard galt mit seinem Lehransatz zudem vielen Katholiken als progressiv und liberal. Er setzte sich für eine demokratische Schulbildung ein. Mit dem damaligen Bildungsminister der Helvetischen Republik und reformierten Theologen Philipp Albert Stapfer (1766-1840) habe er sich sehr gut verstanden. Bereits 1798 habe der Geistliche – «was viele nicht wissen» – ein Projekt für Schweizer Schulen ausgearbeitet, so Bertschy. Die heutigen Primar-, Sekundar- und Kantonsschulen gehen auf diesen Entwurf zurück. Von 1799 bis 1803 war Girard der erste Priester, der in Bern seit der Reformation wirkte.

Dorn im Auge der Hierarchie

Eine weitere illustre Gestalt aus dem Freiburger Schulwesen ist der Jesuit Petrus Canisius (1521-1597), der im Auftrag von Papst Gregor XIII. das Kollegium St. Michael gründete und für die «katholische Elitenbildung» zuständig war. Canisius und Girards Ansätze für den Schulunterricht gehen deutlich auseinander.

Ab 1818, nachdem die Jesuiten nach ihrer Vertreibung aus der Stadt nach Freiburg zurückgekehrt waren, «wurde das Leben für Père Girard schwierig». Bertschy nennt Gründe. Die Jesuiten kritisierten Girards Lehrmethode. Er beschrieb diese in der 1821 erschienenen «grammaire des campagnes». In dieser legte er dar, wie man Schülern, die «patois», eine in der Freiburger Landschaft weitverbreitete Mundart, redeten, die französische Grammatik beibringen soll. Girard praktizierte Grammatik als «Denkschule», was neben den Jesuiten auch dem damaligen Bischof von Freiburg, Pierre-Tobie Yenni (1815-1845) ein Dorn im Auge war. In ihren Augen sollten die Heranwachsenden «christlich geschult werden und Gehorsam lernen», so Bertschy. Darin lag Zündstoff. «Wer es wagt, selber zu denken, wird fürs Regime gefährlich», so der Girard-Biograph.

Franziskanische Basis für Lehrplan 21

Girard setzte sich für eine umfassende Ausbildung der Jugend ein. Er griff dabei auf die Methode des «wechselseitigen Unterrichts» zurück, die er gemäss Bertschy nicht erfand, aber weiter entwickelte. Das will heissen, fortgeschrittene Schüler begleiten jüngere oder leistungsschwächere Schüler. Girard schuf jedoch die «graduierte» Methode. Graduiert heisst, schwierige Aufgaben werden erst in Angriff genommen, wenn man einfachere verstanden hat und beherrscht.

Diese moderne Methode folgt der Logik der «Kompetenzorientierung», wie sie heute der Lehrplan 21 für die Schweiz vorsieht. Entscheidend ist, was man im Leben anwenden kann. Girard habe ein «ausgeklügeltes System von Lernaufgaben entwickelt, die alle überliefert sind», so der Girard-Forscher. Girard wollte, dass bereits zehnjährige Schüler Texte verfassen, argumentieren und Reden halten können.

«Kein einziger einen vernünftigen Satz»

Bertschy ergänzt: «Man muss sich klar sein, dass zur gleichen Zeit, als der Franziskaner in Freiburg wirkte, der reformierte Pfarrer Jeremias Gotthelf die Missstände in Lützelflüh im Berner Emmental skizzierte. Der Ort hatte 748 Schüler, von denen laut Gotthelf kein einziger einen vernünftigen Satz bilden konnte.»

Das Freiburger Kolloquium ging ausführlich der Frage nach, ob die Pädagogik Girards über die Kantonsgrenzen hinaus gestrahlt habe. Um diese Frage zu beantworten, waren Wissenschafter aus Europa und Übersee geladen worden. Der emeritierte Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin, Dietrich Benner, relativierte die Bedeutung Girards für Deutschland. In Deutschland gebe es in den Regionen zahlreiche Pädagogen von hoher Bedeutung, so dass Père Girard nicht wahrgenommen werde.

Die junge Forscherin im Bereich Erziehung an der Universität Rouen in Nordfrankreich, Marie Vergnon, stiess bei ihren Recherchen immer wieder auf den Namen Père Girard. Ihm komme ein «wichtiger Platz in der pädagogischen Szene Europas zu», erklärte sie gegenüber kath.ch. Vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts hätten sich viele Pädagogen für seine Lehransätze interessiert und seien deswegen nach Freiburg gereist. Man dürfe seine Bedeutung aber nicht überschätzen. Die englischen Pädagogen, welche nach Freiburg kamen, wollten vor allem wissen, «was auf dem Kontinent» vor sich gehe. Heinrich Pestalozzi und Père Girard waren diesbezüglich interessante Adressen.

Eine Renaissance Girards?

Jung Forscher wollten heute hinter das Geheimnis von Père Girard kommen. Vergnon drückt es wir folgt aus: «Die Werte, die Girard vertrat, weisen über die Religionsgrenzen hinaus. Es sind vor allem menschliche Werte – und darum behält seine Lehre heute ihre Gültigkeit. Darum möchte ich Père Girard der heutigen Generation bekannt machen.»

Der junge Freiburger Historiker Alexandre Fontaine mit Schwerpunkt «Kultureller Transfer», der an Hochschulen in Paris und Genf lehrt, ist überzeugt, dass eine erneute Erforschung des Lebens und des Werks des «mönchischen Pädagogen» zu einer «substantiellen Erweiterung unseres Horizonts führt». Er weist darauf hin, dass Père Girard in den «Kulturweg des Europarats rund um die grossen Pädagogen» mit der Projektbezeichnung «Kulturweg Helois» aufgenommen wurde. Es sei wichtig, sich auch über die Pädagogik dem europäischen Kulturerbe zu nähern. Der Grundstein zur europäischen Pädagogik sei als Gemeinschaftswerk entstanden. Père Girard müsse darum in diesen Kontext «zurückgesetzt werden».

Auf diese Weise gliedere sich das Werk des Freiburger Pädagogen in eine philosophische, soziologische und praktische Dimension des Schulwesens ein, die weit über die Schweizer Grenzen hinaus reiche. Die Pädagogen des 19. Jahrhunderts seien nach Freiburg gereist, um die «girardischen Methoden kennenzulernen und mitzunehmen». Girard selber habe sich aber nicht als Visionär, sondern als Verbindungsglied verstanden. Er habe Neuerungen seiner Zeit überarbeitet und sei zu einem Resultat gelangt, das er «auf geniale Weise» in der Freiburger Gesellschaft umsetzte. Girards Werk sei ein Glied der europäischen Pädagogik, die aus vielen kleinen transnationalen Elementen und Variationen bestehe.

Stiftung Père Girard

Eine Stiftung Père Girard hält die Erinnerungen an den Priester-Pädagogen wach. Diese wurde 1990 vom Staat Freiburg, von der Universität Freiburg und vom Bistum Lausanne, Genf und Freiburg gegründet. Als Ziele hat sie sich gesetzt, Forschung, Unterricht und Studien auf dem Gebiet der christlich orientierten Pädagogik zu fördern und das Werk von Girard zu studieren und bekanntzumachen. (gs)

Standbild von Père Girard in der Freiburger Altstadt | © 2015 Georges Scherrer
13. Oktober 2015 | 08:17
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Künftige Forschungsfelder: Kant und Kirche

Die Aufarbeitung des Erbes von Père Girards ist wichtig. Das betonten junge Wissenschaftler am Freiburger Kolloquium «Girard 2015». Der Historiker Alexandre Fontaine nannte gegenüber kath.ch als Arbeitsfelder die philosophische Annäherung an den Autor sowie seine Bedeutung in der Rezeption des Philosophen Emmanuel Kant durch die katholische Kirche. Studiert werden müssten auch die wirtschaftlichen Auswirkungen von Girard auf Freiburg. Als Menschenfreund habe der Priester schweizerische und europäische Bedeutung. Zu untersuchen seien weiter seine religiöse Ausstrahlung und sein friedensstiftender Charakter im Miteinander der Konfessionen.

Weitere Themen sind die Forschungsgebiete, für welche sich der Priester interessierte: Medizin und Natur, Recht und Geographie, soziale Projekte und sozialer Friede, sein Glaube an die Vernunft. Als «Macher und Vermittler» von Pädagogik, die auf den verschiedenen Kontinenten übernommen wurde, löse seine Figur einen Dialog aus über die Zusammenhänge, welche die Gesellschaft verbinde. Interessant sei Girard auch bezüglich der Anpassungen und Widerstände, welche westliche Pädagogen an vielen Orten auslösen. (gs)