Regula Ott
Schweiz

«Genderstudien wollen Geschlechtervorurteile reduzieren»

Zürich, 16.5.17 (kath.ch) Das aktuelle NZZ-Folio widmet sich «Sex&Gender». Das Thema sei «nicht sauber» abgehandelt, sagt Regula Ott, Leiterin des Bereichs Bildung, Ethik und Theologie beim Schweizerischen Katholischen Frauenbund. Ott ist Mitautorin der Comic-Broschüre «Let’s talk about Gender», die namhafte Kirchenfrauen zum Internationalen Tag der Frau am 8. März herausgegeben haben.

Regula Pfeifer

In seinem Beitrag «Warum Männer töten» vergleicht Redaktor Reto U. Schneider die Genderforschung mit der katholischen Kirche vor hundert Jahren, die die Darwinsche Evolutionstheorie für Menschen nicht akzeptiert habe.

Regula Ott: Der Vergleich funktioniert nicht. Die katholische Kirche wollte gewisse Sachen aus der Forschung nicht wahrhaben. Die Genderforschung hingegen macht mittels Studien sichtbar, was viele Menschen nicht wahrhaben wollen. Sie zeigt auf, dass wir mangels Wissen falsche Vorstellungen von Geschlecht haben. Sie macht klar, dass sehr viele vermeintlich geschlechtsspezifische Eigenschaften nichts mit Geschlecht zu tun haben.

Genderforschung zeigt auf, dass wir falsche Vorstellungen von Geschlecht haben.

Schneider wirft der Genderforschung auch vor, sie tabuisiere biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau. Macht sie das?

Ott: Nein, das ist eine Unterstellung. In den Genderstudien werden biologische Unterschiede nicht negiert. Aber dieser Forschungszweig interessiert sich hauptsächlich für die sozialen Einflüsse auf uns Menschen aufgrund von Vorstellungen, die wir von «männlich» und «weiblich» haben. Da müssen biologische Einflüsse mitdiskutiert werden. Und das tun die Genderstudien auch. Aber nicht immer, weil das nicht ihr Hauptinteresse bildet. Ihr Hauptziel ist, die Welt gerechter zu machen, indem sie Geschlechtervorurteile zu verhindern oder zu reduzieren versuchen.

Was hat die Genderforschung denn herausgefunden?

Ott: Eine Studie einer Soziologin aus den USA beispielsweise zeigt, dass schon vor der Geburt Zuschreibungen bezüglich Geschlecht gemacht werden. Sobald werdenden Eltern das Geschlecht des Kindes bekannt war, bezeichneten sie dieselben Bewegungen verschieden: Bei einem ungeborenen Buben als «kräftig und energisch», bei einem Mädchen dagegen als weniger lebhaft. Das zeigt, dass wir bereits sehr kleine Kinder mit Geschlechtserwartungen konfrontieren. Dies wirkt sich später auf ihr Verhalten aus.

Wir konfrontieren bereits sehr kleine Kinder mit Geschlechtserwartungen.

In welchen Fällen berücksichtigen Genderstudien die biologischen Faktoren?

Ott: Für Genderforscherinnen und -forscher ist der biologische Unterschied einfach ein Merkmal. Daraus ausgehend werden Zuschreibungen kritisch untersucht. Allerdings ist das biologische Geschlecht viel komplexer als üblicherweise dargestellt. Das zeigt auch der Sexualwissenschafter Heinz-Jürgen Voss im Interview in diesem «NZZ-Folio». Er sagt, es gebe so viele Ausprägungen für die geschlechtlichen Merkmale, dass eine zweigeschlechtliche Sicht dieser Komplexität gar nicht gerecht werden könne.

Übrigens wird den Genderforscherinnen oft unterschoben, sie beabsichtigten, die Unterscheidung Frau-Mann überhaupt abzuschaffen. Aber auch darum geht es nicht.

Der Mann geht viel eher fremd, ist grösser und gewaltbereiter. Diese Feststellungen erklärt Schneider mit Ansätzen der Evolutionspsychologie. – Wie schätzen Sie das ein?

Ott: Falls diese Feststellung stimmt, dann muss berücksichtigt werden, dass biologische und soziologische Faktoren zusammenwirken, wie in einem sehr gelungenen Artikel der neuen Ausgabe der Zeitschrift «Fama» beschrieben wird. Also falls Männer tatsächlich öfter fremdgehen, grösser und gewaltbereiter sind, dann wissen wir noch nicht, weshalb. Schneiders Annahme, dies geschehe nur aufgrund von biologischen Faktoren, ist nach heutigem Wissensstand sehr unwahrscheinlich und ignoriert viele Studien aus der Genderforschung in den Bereichen Biologie und Psychologie.

Werden Vorurteile gegenüber den Geschlechtern zementiert, muss dies untersucht werden.

Im Übrigen beruht die Evolutionsbiologie – wie viele Wissenschaften – auf einer Theorie. Und die muss man, wie jede wissenschaftliche Erkenntnis, kritisch beleuchten. Vor allem wenn die Evolutionsbiologie ein gesellschaftliches Vorurteil gegenüber den Geschlechtern zementiert, muss dies wissenschaftlich untersucht werden. Dass Forscher und Forscherinnen bestimmte Werte, Moralvorstellungen und Allgemeinwissen wissenschaftlich zu untermauern versuchen, ist normal, da jede Wissenschaft von gesellschaftlich akzeptierten Vorstellungen ausgeht.

Gehen Argumentationen wie «der Mann ist stärker» zu Lasten der Frauen?

Ott: Ja, aber auch zu Lasten von Männern. Von jedem Mann zu verlangen, er müsse stark sein und solle sich nicht um seine Kinder kümmern, entspricht für viele Männer überhaupt nicht ihrer Vorstellung von Männlichkeit.

Haben Ihnen Artikel im Heft gefallen?

Ott: Das Interview am Anfang hat mir gefallen, weil es aufzeigt, dass es mehr gibt als nur die zwei Pole männlich-weiblich. Das thematisiert auch die aktuelle Amnesty-Kampagne. Sie enthält Zahlen aus Studien, wonach weltweit 1,7 Prozent der Neugeborenen mit intersexuellen Merkmalen geboren werden – also sehr viele Menschen, deren primären Geschlechtsmerkmalen keinem der zwei Pole entsprechen.

Weltweit werden 1,7 Prozent der Neugeborenen mit intersexuellen Merkmalen geboren.

Auch der Artikel über Emily Bem enthält spannende Aspekte. Bem ist als Tochter einer Feministin ohne Geschlechterkorsett aufgewachsen. Hier wird zwischen den Zeilen definiert, worum es den Genderstudien geht. Nämlich: die Geschlechterzuordnung zu hinterfragen, damit Kinder die Möglichkeit haben, sich nach ihren Fähigkeiten zu entwickeln und nicht nach Vorstellungen davon, wie Buben und Mädchen sein müssen.

Wie schätzen Sie das NZZ-Folio «Sex&Gender» allgemein ein?

Ott: Die Beiträge weisen eine kritische Haltung gegenüber Genderstudien auf. Das Problem dabei: Die kritisierten Genderforscherinnen und -forscher kommen nicht zu Wort. Und ihre Studien wurden nicht konsultiert. Das ist kein sauberes Vorgehen und es ist der Grund, weshalb das Heft ein falsches Bild der Genderstudien zeichnet. Für ausgewogene Berichterstattung muss man Studien berücksichtigen, welche die eigene Aussage widerlegen, um diese dann, falls möglich, zu entkräften.

Fehlt Ihnen hier die Position der Kirche?

Ott: Nein, das war nicht der Ansatz dieser Publikation. Sie argumentieren wissenschaftlich, aber ohne wissenschaftlich ausgewogen vorzugehen. Hätten sie theologisch argumentiert, hätten sie die Kirche wohl mitberücksichtigt. Das war aber nicht der Fall – ausser beim erwähnten Vergleich zwischen Kirche und Genderstudien.

Regula Ott | © zVg
17. Mai 2017 | 09:19
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