Schwester Ingrid Grave

Gedanken zum Sonntag: Wenn die Zweige saftig werden

Gedanken zum Sonntag, 18.November 2018 (Markusevangelium 13,24-32)

Ingrid Grave*

Fast im ganzen 13. Kapitel seines Evangelientextes macht der Verfasser Markus auf Weltuntergangsstimmung. Kaum eine Katastrophe lässt er aus, und das Ganze gipfelt dann in der Erscheinung des Menschensohnes auf den Wolken – in Macht und Herrlichkeit (13,24 – 32). Er führt die Erwählten zusammen; denn sie sollen gerettet werden.

Evangelium bedeutet Frohbotschaft. Hier aber liest sie sich wie eine Drohbotschaft.

Werden wirklich die Sterne vom Himmel fallen, wird die Sonne sich verfinstern und der Mond seinen Schein verlieren?

Immer wieder haben Menschen diese Texte allzu wörtlich genommen, wenn Naturkatastrophen oder Kriege das Zusammenleben der Völker erschütterten. Schon eine Sonnenfinsternis konnte die Menschen beunruhigen und ängstigen. Könnte sie ein Zeichen sein für den baldigen Weltuntergang?

Nichts Derartiges ist bis jetzt passiert.

Trotzdem bleiben wir in Besorgnis und Angst. Wir haben im Laufe eines einzigen Jahrhunderts zwei Weltkriege erlebt. Jüngste politische Entwicklungen lassen uns wiederholt den Atem anhalten. Naturkatastrophen ereilen uns an Orten und zu Zeiten, wo wir sie nicht erwartet haben. Hat der Evangelist Markus Recht mit seinem Horrorszenario? Er schreibt so, dass wir an reale Zustände denken, die kommen könnten. Ebenso ist es ein Bild für das, was in jeder Epoche der Menschheitsgeschichte ablaufen kann.

Mitten in seine Schwarzmalerei hinein zeichnet Markus unvermittelt ein Bild, das wir an dieser Stelle so nicht erwarten. Es ist ein Frühlingsbild. Wenn die Zweige des Feigenbaums saftig werden und grüne Blätter treiben, dann kommt etwas Neues. Der Winter weicht, der Frühling zieht ein, und der Sommer ist nicht mehr weit. Ein Hoffnungsbild! In den ganzen Aufruhr von Umbruch und Vergehen bricht Unveränderliches ein, das göttliche Wort, das nie vergehen wird.  Doch was heisst das? Wie zeigt sich das im gewöhnlichen Leben? Wo und wie erscheint das Wort, durch das wir im Chaos der Nöte und im Wechsel widerstreitender Gefühle unseren Stand gewinnen? Denn da brauchen wir das göttliche Wort, das uns sagt: Du gehörst zu denen, die gerettet werden. Aus deinem eigenen Saft heraus!

In diesem Saft liegt die unvergängliche Kraft Gottes verborgen, die zum Menschen spricht: Richte dich auf und lass deinen Saft in dir emporsteigen in deine Zweige; denn der Sommer wird kommen und dein Leben will neu werden.

*Ingrid Grave ist Dominikanerin in Zürich, wo sie sich in der Seelsorge engagiert

Schwester Ingrid Grave | © Paulusverlag
17. November 2018 | 12:00
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