Vor Gott gibt es keine halben Menschen

Gedanken zum Festtag: 16. April 2017, Ostern

Vor Gott gibt es keine halben Menschen

Von Josef Imbach*

In seiner Kurzgeschichte «Die Essenholer» berichtet Heinrich Böll von vier Soldaten, die einen gefallenen Kameraden, von dem nur noch der halbe Körper übriggeblieben ist, in einer Zeltplane forttragen. Dabei werden alle von einer Granate getötet. Im Augenblick des Todes durchzuckt es den Anführer: «Da wusste ich, dass ich an einem anderen Ziel war und wahrheitsgemäss vier und einen halben würde melden müssen, und als ich lächelnd vor mich hinsagte: Viereinhalb, da sprach eine grosse und liebevolle Stimme: Fünf!»

Denn vor Gott gibt es keine halben Menschen, so beschädigt ihr Leben auch sein mag.

Wir alle haben eine ganz persönliche, unwiederholbare Geschichte. Diese Geschichte ist ein Gewebe aus Enttäuschungen und Niederlagen, aus Sorgen und Siegen, aus Lust und Leiden. Geschichte – damit assoziieren wir das Gestrige und das Vorgestrige und damit das Vergangene, das wir nicht wieder hereinholen können in unsere Gegenwart und in unsere Zeit.

Das Vergangene können wir nicht wieder in die Gegenwart holen .

Wenn wir die Sache aber genau bedenken, gibt es in unserer Geschichte wohl eine Vergänglichkeit, aber eigentlich gar keine Vergangenheit. Denn unsere früheren Erfahrungen und Erinnerungen wirken sich aus auf unser gegenwärtiges Denken und Trachten – und damit auf unsere Zukunft. Alles, was wir wahrnehmen, sei das nun bewusst oder unbewusst, prägt und formt uns und wird so zu einem Teil unseres Ich. Wir haben also nicht bloss eine Geschichte; vielmehr sind wir in gewisser Weise unsere Geschichte. Und ohne diese einmalige und einzigartige Geschichte wären wir nicht mehr wir selbst.

Auferstehung bedeutet, dass wir unsere Geschichte im Tod nicht einfach abstreifen und sie hinter uns zurücklassen wie unnützen Ballast. Wenn dem so wäre, würden wir ja unser Selbst und unser Ich verlieren.

Der russische Dichter Jewgenij Aleksandrowitsch Jewtuschenko hat das einmal in wunderbaren Versen so ausgedrückt:

Jeder hat seine eigene, geheime, persönliche Welt. […]
Wenn ein Mensch stirbt,
dann stirbt mit ihm sein erster Schnee
und sein erster Kuss und sein erster Kampf …
all das nimmt er mit sich.

Alles nimmt er mit sich. Denn im Tod gehen wir nicht fort, ohne irgendwo anzukommen. Keine Träne wurde vergebens geweint und auch das leiseste Lächeln wird nicht verloren sein. Auferstehung besagt, dass nicht das Nichts, sondern dass Gott uns erwartet.

Erst in dieser Begegnung kommt unsere Geschichte zur Erfüllung. Die Hoffnung auf Auferstehung besagt: Gott wird das Gute verklären, das Angefangene vollenden und das Zerbrochene ganz machen.

* Josef Imbach ist Verfasser zahlreicher Bücher. Er unterrichtet an der Seniorenuniversität Luzern und ist in der Erwachsenenbildung und in der praktischen Seelsorge tätig.

15. April 2017 | 12:59
Lesezeit: ca. 2 Min.
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