Claudia Kost singt - mit Karl Marx im Rücken
Schweiz

Die Zeitschrift «Neue Wege» feiert Karl Marx und sich selbst

Zürich, 8.5.18 (kath.ch) Die «Neuen Wege» sind zäh: Die Zeitschrift, die Christentum und Sozialismus verbindet, erscheint seit 112 Jahren – unterbrochen nur durch die Zensur im Zweiten Weltkrieg. Zum 200. Geburtstag von Karl Marx wurde sie optisch aufgepeppt. Den Relaunch feierte die Zeitschrift in Zürich mit Prominenz aus Politik, Religion und Kultur – und stellte dabei die Gretchenfrage.

Remo Wiegand

Nüchtern, spritzig, bodenständig, cool, expressiv, melancholisch, professoral, scharfzüngig: So liessen sich die acht Kurzvorträge am Relaunch-Fest der «Neuen Wege» in je einem Wort charakterisieren. Prominente Sympathisanten der religiös-sozialen Bewegung – von der Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr über die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser bis zu Radiofrau Iren Meier – sollten dabei in drei bis vier Minuten die Gretchenfrage beantworten: «Wie hast du’s mit der Religion?». Was sie dabei über Gott und was über die «Neuen Wege» aussagten? Dazu später mehr.

Neu kreierter «Karl» Marti

Auf der Bühne des Zürcher Kirchgemeindehaus am Stauffacher prangt das Konterfei von Karl Marx. Daneben der Spruch: «Je älter der Kapitalismus, desto neuer die Neuen Wege» (Kurt Marti). Der vor einem Jahr verstorbene Berner Literatenpfarrer und der Grossvater des Sozialismus markierten das Spektrum des samstäglichen Festes und seiner Gäste. Bezeichnenderweise verschränkte Schauspielerin Laura Huonker, die Moderatorin des Abends, Karl Marx und Kurt Marti einmal zu «Karl Marti». Der Versprecher konnte bereits als Literatur verbucht werden – so etwas wie das Schmiermittel der «Neuen Wege» neben den eher starren Achsen Religion und Sozialismus. Mehr dazu später…

Rund 200 Gäste folgten dem Aufruf der «Neuen Wege»-Macher zum Festakt. Das entspricht einem Sechstel der Abonnenten der Zeitschrift, die monatlich mit einer Auflage von rund 1500 Exemplaren herauskommt. Auch jüngere Menschen waren am Samstag im Publikum auszumachen, die ergrauten Häupter schienen ihrerseits nicht ganz so ergraut wie bei anderen kirchlichen Veranstaltungen. Die kleinen «Neuen Wege» schaffen es augenscheinlich besser als andere christliche Nischenprodukte, eine treue Gemeinde zu bespielen.

Gleichwohl kämpft auch die Zeitschrift für «Religion, Sozialismus, Kritik» – so der neue Untertitel – mit abnehmenden Leserzahlen. «Das Christentum und der Sozialismus sind beides keine Wachstumsmärkte», sagte Co-Redaktorin Laura Lots am Rande der Veranstaltung. Eine Zeitschrift, die beides zu verbinden versuche, verliere notgedrungen Leser.

Schrift statt Bild

Die «Neuen Wege» möchten sich dem Abwärtstrend nicht kampflos ergeben. Freiwillig Engagierte kümmern sich rührend um die 112 Jahre alte Zeitschrift, flüssige Mittel – die Zeitschrift lebt neben den Abonnenteneinnahmen von Spenden und Legaten – sind (noch) vorhanden. So leistet sich die Zeitschrift derzeit einen Relaunch. Das Grafikatelier «Bonbon» hat ein schlichtes, durchaus sperriges Layout kreiert, das «in einer Gegenwart der Bilderflut» bewusst die Schrift als roten Faden definiert. Markantestes Merkmal: Zwischen den Artikeln grüssen vor farbigem Hintergrund grossformatige Quotes mit angeschnitten Buchstaben. Was ist die Botschaft dieses grafischen Kniffs?

«1920 wurde kritisiert, dass der Name der Zeitschrift rasch veraltet sein würde.»

Vorerst zurück zum Festakt, den die «Neue Wege»-Co-Präsidentin Esther Straub mit einer beherzten Rede offiziell eröffnete. Die Pfarrerin und SP-Kantonsrätin erinnerte an Diskussionen anlässlich der Gründung von 1920: «Damals wurde kritisiert, dass der Name der Zeitschrift rasch veraltet sein würde, sobald sich das religiös-soziale Programm erfüllt hätte», rief Straub in den schmunzelnden Saal. Heute halte man es lieber mit Kurt Martis Diktum von der ständigen Erneuerung der «Neuen Wege» im Widerschein eines verblassenden Kapitalismus. Entsprechend trete man mit dem Relaunch nun die Flucht nach vorne an.

Fehr über Bedeutung der Religion für Ethik

Zwischen den Gängen eines vorzüglichen Abendmahls, gekocht und serviert von Migranten der Theatergruppe «Malaika», und abwechselnd mit Liebes- und Kampfliedern, folgten nun die mit Spannung erwarteten Antworten auf die Gretchenfrage der Polit-, Aktivisten- und Kulturprominenz. SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr machte den Anfang: Ganz Staatsfrau, hob sie die Bedeutung der Religion in Fragen der Ethik hervor und wies den Staat dabei in die Schranken. Ebenso lobte Fehr die Presse. Einmal allerdings, als die «Neuen Wege» via die baskische Aktivistin Nekane Txapartegi schwere Vorwürfe gegen ihr Justizdepartment verbreitet hatten, ohne dessen Position anzuhören, sei die Zeitschrift «übers Ziel hinausgeschossen».

«An was kann man sich noch halten, wenn die Bärte ab sind?»

Regierungsrätin Fehr sprach nicht über ihren persönlichen Glauben. Wie als Antithese zu dieser Sachlichkeit präsentierte der Berner Schriftsteller Gerhard Meister einen gebetsartigen Essay. «Ach Gott», klagte er immer wiederholend – und schweifte lustvoll ab. Meister erzählte, wie Italiener früher Karl Marx-Bildchen in den Hausaltar schmuggelten, er landete bei Darwin und Marx, ihren ikonischen Bärten und fragte: «An was kann man sich noch halten, wenn die Bärte ab sind?» Ach Gott, beste Unterhaltung.

GSoA-Aktivistin outet religiöse Prägung

Nach der Hauptspeise folgte der grösste Block zur Frage des Abends. GSoA-Aktivistin Louise Schneider, bekannt geworden als sprayendes Grosi, erzählte von ihrer religiösen Prägung. Im Zentrum: biblische Geschichten. «Ob das schon Religion ist, weiss ich allerdings nicht», bekannte die 87-Jährige schlicht und ergreifend. Am anderen Ende der Altersskala machte der ehemalige Juso-Präsident und heutige SP-Nationalrat Cédric Wermuth gleich zu Beginn klar, dass er es «nicht so mit der Religion» habe. Der frühere «Neue Wege»-Redaktor Willy Spieler hätte ihn indes tief beeindruckt, geprägt und hinsichtlich früherer, laizistischer Kampfparolen gemässigt.

Die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat erzählte und gestikulierte in ihrer typisch orientalischen Art, bevor die langjährige Radio-Korrespondentin Iren Meier mit ihrer unverwechselbar melancholischen Stimme von einem früheren religiösen Erlebnis in einem Schwarzen-Ghetto Südafrikas berichtete. Historiker und Alt-Nationalrat Jo Lang dozierte über die konfessionelle Prägung Karl Marx› und verfehlte die Gretchenfrage am deutlichsten. (Dafür kümmerte sich den Abend lang hingebungsvoll um Louise Schneider). Zuletzt klagte die feministische Theologin Ina Praetorius Gott gewitzt ihr Leid, dass sie laufend berühmten Männern zum Geburtstag gratulieren müsse.

Starkes Kollektiv

Die acht Stimmen ergaben zusammen eine gelungene Komposition. Die Sympathisanten der religiös-sozialen Bewegung ergaben ein Kollektiv, bei dem die Ecken der einen die Kanten der anderen ausglichen: Da überzog zum Beispiel eine Regierungsrätin ihre dreiminütige Redezeit um Längen, an die sich die Radiofrau beinahe pedantisch hielt. Hier verweigerte eine aufmüpfige Denkerin die Standardanrede «Liebe Genossinnen und Genossen», die die Politiker selbstverständlich benutzten. Hier nüchterne Fakten, dort überfliessende Fiktion, hier bodenständiger Büezerpathos, dort die hohe Schule der Wissenschaftlichkeit.

Den gefeierten Schwergewichten zum Trotz – neben Karl Marx wurde auch «Neue Wege»-Gründervater Leonhard Ragaz (* 1868) gefeiert – haftete dem ganzen Abend etwas Leichtes an. Erstaunlich selten glitt er in dumpfes Markt-Bashing und Feindbilder-Schenkelklopfen ab. Stärker sind unhinterfragte linkspolitische Überzeugungen in der Zeitschrift selbst zu finden. Dass die «Neuen Wege» jedoch nicht gänzlich in politische Kampfrhetorik abgleiten, dafür sorgen immer wieder grosse Autoren wie Kurt Marti, Peter Bichsel oder Adolf Muschg, die sich allen Heilslehren gegenüber widerständig zeigen: So schrieb Muschg in der letzten Nummer vor dem Relaunch über Jesus: «Es sind die Brüche und Risse in einer Botschaft, die für mich seine physische Realität bezeugen, an der vieles nicht aufging, nicht zu glätten, nicht wegredigierbar war.»

Kein letztes Wort

Diese Brüche, die vor dem Abheben in Heilsgewissheiten bewahren, zelebrieren die neuen «Neuen Wege» nun auch optisch: «Dass die Buchstaben in den Quotes und im Hefttitel leicht beschnitten sind, erinnert an Blätter und Texte, die sich überlagern», schreiben die Redaktoren in der aktuellen Nummer. Das «betont das Selbstverständnis der ‘Neuen Wege’ als Forum für Debatten, in der das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.» Es ist zu hoffen, dass dem noch lange so bleibt.

Claudia Kost singt – mit Karl Marx im Rücken | © Sylvie F. Matter
8. Mai 2018 | 14:44
Lesezeit: ca. 5 Min.
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Neues Kleid für «Neue Wege»

Anlässlich des 200. Geburtstags von Karl Marx (5. Mai) zeigen sich Zeitschrift und Website von «Neue Wege» in neuem Layout. Dabei bleibt die Zeitschrift mit dem Untertitel «Religion. Sozialismus. Kritik» dem Wort treu: «Das Wort ist das primäre Medium von Neue Wege», heisst es dazu in der aktuellen Ausgabe (5/2018). «Statt auf die Macht der Bilder setzt die Gestaltung auf grossformatige Quotes auf farbigem Hintergrund», so das Credo.

Die Zeitschrift «Neue Wege» wurde 1906 von sozial, politisch und pazifistisch engagierten Theologen gegründet, heisst es auf der Website. Sie baut laut eigenen Angaben «Brücken zwischen re­li­giösen und theo­lo­gi­schen sowie lin­ken ge­sell­schafts­po­li­ti­schen Dis­kur­sen».

Der Untertitel drückt die Verbundenheit von «Neue Wege» mit der religiös-sozialen Bewegung aus. Die Monatszeitschrift publiziert theo­lo­gi­sche, sozialwissenschaft­li­che und öko­no­mi­sche Ana­ly­sen, Ge­spräche, Er­fah­rungs­be­rich­te, Rezen­sio­nen, Me­di­ta­tio­nen und li­te­ra­risch-essayis­ti­sche Bei­trä­gen. Sie ist gemäss Website der Ökumene und dem in­ter­re­li­giö­sen Dialog ver­pflich­tet. (sys)