Sihem Tanner und Ada Winter
Schweiz

Eine Jüdin und eine Muslimin machen sich gemeinsam für Frauen stark

Zürich, 11.12.18 (kath.ch) Eine Ausstellung zeigt muslimisch-jüdische Freundschaften. Sihem Tanner und Ada Winter sind eines dieser Freundschaftspaare. Im Interview erzählen die Muslimin und die Jüdin aus Stäfa, wie sie im gemeinsam erteilten Deutsch-Unterricht an Migrantinnen auch Frauenrechte thematisieren.

Sylvia Stam

Wie kam es zu Ihrer Freundschaft?

Ada Winter: Wir haben uns beide für eine Freiwilligengruppe der reformierten Kirche Stäfa interessiert. Diese setzt sich für Asylsuchende ein. Bei einer der Veranstaltungen fielen Sätze wie: «Das wäre ja nicht christlich, wenn wir auf diese oder andere Art etwas tun würden.»

Sihem Tanner: Das Wort «christlich» fiel immer wieder. Das hat mich zwar nicht gestört, aber ich habe mich alleine gefühlt. Da habe ich mich umgeschaut und Adas Gesicht gesehen. Wir haben uns über unsere Blicke sofort verstanden.

«Wir verstanden uns über Blicke sofort.»

Winter: Ich habe zu der Person, die den Anlass moderierte, gesagt: «Wenn du das ‹christlich› durch ‹menschlich› ersetzt, fühle ich mich als Jüdin auch angesprochen.» Die Frau hat sich sofort bei mir entschuldigt und es wurde fortan sehr auf die Sprache geachtet.

Wie würden Sie Ihre Religion beschreiben?

Tanner: Ich bin Muslimin, und ich bin mit einem reformierten Schweizer verheiratet. Für mich ist Religion etwas Persönliches. Das ist eine Herzenssache. Die Hauptsache ist, dass wir einander respektieren. Kürzlich hat Ada mir erzählt, dass sie traurig war, weil gerade ein jüdisches Fest war und sie sich alleine fühlte. Ich habe sie gefragt: Warum hast du mich nicht angerufen, damit wir zusammen feiern? Das Wichtigste beim Feiern, auch von religiösen Festen, ist für mich das Zusammensein mit anderen Menschen.

Winter: Ich bin Jüdin, praktiziere aber wenig und sehr differenziert. Ich gehe nicht in die Synagoge.

Israel kann ein Konfliktthema sein zwischen Muslimen und Juden. Wie ist das bei Ihnen?

Winter: Ich habe sieben Jahre lang für Neve Shalom/Wahat al Salam gearbeitet. Das ist das einzige Dorf in Israel, in dem Juden und Palästinenser die gleichen Rechte und Pflichten haben. Für mich ist das kein Thema. Ich empfinde die israelische Politik nicht immer als demokratisch, weil sie Bürger zweiter Klasse toleriert, und das sage ich auch. Ich empfinde Kritik an Israel wirklich als Kritik am Staat und an dessen Führung. Extremismus lehne ich grundsätzlich ab, auf beiden Seiten.

«Wir sprechen auch schwierige Themen an.»

Tanner: Wir sind Menschen, und das Heilige Land gehört allen. Die Juden waren zuerst da, dann kamen die Christen, dann die Muslime. Was dort politisch geschieht, ist etwas anderes. Die politische Angelegenheit zwischen Juden und Muslimen bleibt ein Tabuthema, wenn auch nicht zwischen Ada und mir.

Sie unterrichten gemeinsam Deutsch.

Tanner: Wir unterrichten seit drei Jahren ehrenamtlich Deutsch an Migrantinnen, im Rahmen der reformierten Kirche. Wir treffen uns jeden zweiten Montag. Die Initiative kam von mir. Ich war damals neu in der Schweiz und fühlte mich einsam. Mir war bewusst, dass man ohne Sprache nicht weit kommt. Ich habe mich mit drei Frauen zusammengetan, um zusammen Deutsch zu sprechen. Aber mein Deutsch war nicht so gut, und darum habe ich Ada um Hilfe gebeten.

«In der Schweiz ist es möglich, den Ehemann anzuzeigen.»

Sprechen Sie im Unterricht auch über Ihre Religion?

Winter: Ich erzähle jeweils, was es im Judentum für Bräuche gibt und was ich selber mache. Ich betone, dass ich jüdisch bin, weil wir viele muslimische Frauen haben. Ich möchte, dass sie das wissen und wir gegenseitig mehr über unsere Religion im täglichen Leben erfahren. Indem Gemeinsamkeiten der Traditionen entdeckt werden, ist die gegenseitige Akzeptanz wie vorgegeben. Es gibt auch schwierige Themen, aber wir sprechen alles an.

Was gibt es für schwierige Themen?

Winter: Einmal war «Gewalt gegen Schwächere» im Unterricht Thema. Ich habe betont, dass es neben Gewalt an Frauen auch die Gewalt in der Ehe gibt und dies in der Schweiz verboten ist. Dabei erwähnte ich, dass es möglich ist, den Ehemann anzuzeigen. Dabei habe ich ganz klar die Rechte von Frauen aufgezeigt. Für einige war das ziemlich schockierend.

Sind ausschliesslich Frauen in der Gruppe?

Tanner: Es sind nur Frauen. Wir haben ab und zu probiert, einen Mann aufzunehmen, aber er hat sich nicht wohl gefühlt. Jetzt gibt es eine andere Gruppe für Männer.

«Muslimische Frauen reden wenig, wenn Männer da sind.»

Winter: Viele muslimische Frauen reden meiner Erfahrung nach wenig, wenn Männer da sind. Für mich ist es ganz wichtig, dass sie im Deutschunterricht nicht Grammatik büffeln, sondern reden. Vor diesem Hintergrund bringen gemischte Gruppen nichts.

Sehen Sie das als Muslimin auch so?

Tanner: Ja, in manchen muslimischen Kulturen betrachten die Frauen die Männer als höhergestellt. Die Frauen schweigen, schämen sich oder sind zu schüchtern, um zu sprechen. Das gilt vor allem für Frauen aus Syrien, Frauen aus Nordafrika sind moderner.

«Es kommt vor, dass eine Frau plötzlich weint.»

Auf Ihrem Plakat steht: «Stärkt die Frauen.» Verbindet Sie dieses Engagement?

Tanner: Einer Muslimin ist es eigentlich verboten, mit einem Christen verheiratet zu sein. Ich war aber immer schon der Meinung, dass Frauen sich frei fühlen sollen und dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Bei Ada habe ich das auch gespürt.  In unserem Unterricht geben wir ab und zu solche Signale.

Winter: Klar verbindet das gemeinsame Engagement, denn Frauen gehen ganz anders aufeinander zu.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Winter: Wenn in der Familie Söhne und Töchter sind, erkundigen wir uns nach den Unterschieden in der Erziehung. Meist wird als erstes geäussert, dass es keine Unterschiede gebe. Dann fragen wir mit alltäglichen Beispielen wie dem Abwaschen, Essen servieren oder Abfall entsorgen nach. Ich sage dann vielleicht, dass es sich in einer Schweizer Familie anders verhält und bringe dazu Beispiele. Ich hoffe, dass die Frauen und Mädchen dadurch anfangen, sich zu fragen: Was empfinde ich? Was empfinde ich als richtig? Das sind sie oft gar nicht gewohnt.

Tanner: Wir reagieren auch einfach auf die jeweilige Situation. Es kommt vor, dass eine Frau plötzlich weint. Dann wenden wir uns ihr natürlich zu. Es ist sehr schön, so mit diesen Frauen zusammenzuarbeiten.

Sihem Tanner und Ada Winter | © Sylvia Stam
11. Dezember 2018 | 10:31
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Jüdisch-Muslimische Freundschaften

Die Wanderausstellung «Jüdisch-Muslimische Freundschaften und Bekanntschaften» zeigt zwölf jüdisch-muslimische Freundschaftspaare. Auf Plakaten sind die Zweiergruppen jeweils ins Bild gesetzt, in einem kurzen Statement sagen die beiden, was sie verbindet. Die Vernissage fand am 28. November im muslimischen Gemeinschaftszentrum «Project Insert» in Zürich statt.

Die Ausstellung wurde vom «National Coalition Building Institute Schweiz» (NCBI, Nationales Brückenbauer-Institut, d. Red.)  organisiert. NCBI Schweiz ist laut eigenen Angaben ein konfessionell und parteipolitisch neutraler Verein. Er setzt sich ein für den Abbau von Rassismus und Diskriminierung.

Die Ausstellung ist bis am 21. Dezember im Project Insert, Dörflistrasse 67, in Zürich zu sehen. Vorabmeldung nötig unter respect@ncbi.ch. Weitere Daten: 13. Januar, 15 Uhr, Israelitische Cultusgemeinde Zürich, Lavaterstrasse 33. Ab Februar 2019 soll die Ausstellung an weiteren Orten gezeigt werden. Interessenten wenden sich an respect@ncbi.ch. (sys)