Gebet im Kantonsrat Appenzell Ausserrhoden
Schweiz

Ein Pfarrerssohn rebelliert gegen das Vaterunser

Herisau, 9.12.18 (kath.ch) Ein Gebet und das Vaterunser im Kantonsrat? In Appenzell Ausserrhoden ist das Tradition. Zwei Kantonsräte rebellieren dagegen und verbringen die Gebetszeit vor der Sitzungstür – darunter auch der Sohn eines reformierten Pfarrers.

Raphael Rauch

Wer eine symbolische Nähe von Staat und Religion sucht, wird im Kantonsrat von Appenzell Ausserhoden fündig. Die Kirchenglocken der reformierten Kirche in Herisau läuten vor der Kantonsratssitzung. Diese begann letzten Montag pünktlich um 8.15 Uhr. Nach einer sechsminütigen Rede sagte der Kantonsratspräsident: «Die Sitzung ist eröffnet, wir stehen zum Gebet auf.» Dann folgten 100 Sekunden der Besinnung. Mit den Worten «Allmächtiger Vater, wir bitten um deinen Beistand» begann der Ratschreiber ein Gebet, anschliessend folgte das Vaterunser. Es wird im Kantonsrat nur vom Ratschreiber vorgetragen – und nicht wie in der Kirche von den Anwesenden mitgesprochen.

Zwei Räte schwänzen das Gebet

Das religiöse Ritual im säkularen Raum ist alt, aber umstritten. Erst im September hat der Kantonsrat in Herisau mit 34 zu 27 Stimmen beschlossen, dass beim Beten alles beim Alten bleibt. Zu den schärfsten Kritikern der bestehenden Praxis gehören Niklaus Sturzenegger (FDP) und Jens Weber (SP). Seit der gescheiterten Änderung schwänzten beide das Gebet, berichtet Weber: «Wir verlassen den Kantonsratsaal, sobald das Gebet beginnt, und kommen zurück, wenn das Gebet zu Ende ist.» Kollegen im Ratssaal würden sie dabei unterstützen: «Die Türklinke wird nach unten gedrückt, sobald das Gebet fertig ist. Dann wissen wir: Wir können wieder reinkommen», sagt Weber.

Der SP-Kantonsrat ist Sohn eines reformierten Pfarrers und Kirchenmitglied. Er habe nichts gegen religiöse Rituale. Aber: «Dieses Gebet hat in einem Kantonsratssaal nichts zu suchen», sagt Weber. Ihm gehe es um die Neutralität des Staates. Im Kantonsrat privilegiere der Staat das Christentum. «Wie wäre es, wenn ein Muslim oder ein Atheist Mitglied im Kantonsrat wäre? Seine Glaubens- und Gewissensfreiheit würde verletzt», sagt Weber.

Konsequent, trotzig, albern?

Die Politik des leeren Stuhles komme unterschiedlich an, berichtet Weber. Manche seiner Ratskollegen fänden es konsequent, andere trotzig oder albern. Das Gebet-Schwänzen solle aber kein Dauerzustand sein. «Wir wollen einen Antrag einbringen. Künftig soll es nicht mehr heissen: ‹Wir stehen zum Gebet auf›, sondern man soll die Wahl haben, sitzen zu bleiben», kündigt Weber an.

Niklaus Sturzenegger (FDP) hatte sich für ein stilles Gebet stark gemacht: «Jeder und Jede soll entscheiden, ob er die Hilfe und Unterstützung einer höheren Macht in Anspruch nehmen will und welche höhere Macht seinem Glauben und Gewissen entspricht», sagt Sturzenegger. Die Rebellen setzen auch auf die neue Verfassung, die bis zum Jahr 2022 ausgearbeitet werden soll.

«Teil von etwas Grösserem»

Doch die religiös gefärbte Tradition hat auch viele Fans. Kantonsrätin Claudia Frischknecht (CVP) sagt: «Mir tut es gut, inne zu halten. Und ich finde es gut, dass wir uns zu unseren Werten bekennen. Ich sehe keinen Grund, das zu ändern.» Balz Ruprecht (EVP) findet: «Der erste Teil des Gebets ist mir extrem wichtig. Es zeigt, dass man Teil von etwas Grösserem ist und sich selbst nicht überbewertet. Der zweite Teil, das Unservater, ist ein wichtiger Bestandteil unseres Glaubens. Ich finde es schön, dass wir es zusammen beten.»

Florian Hunziker (SVP) warf Jens Weber (SP) in einem Leserbrief in der «Appenzeller Zeitung» vor, unter dem «Deckmantel der Laizität» dem «bewährten besinnlichen Einstieg ein Ende» bereiten zu wollen.

«Ich habe mir speziell Mühe gegeben, das rhetorisch gut rüberzubringen.»

Erich Niederer kennt die Verhältnisse in Herisau bestens. Der langjährige Leiter des DRS-Regionalstudios Ostschweiz war von 2000 bis 2005 selbst Ratschreiber des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Zu seinem Job gehörte es auch, Gebet und Vaterunser vorzutragen: «Ich habe mir speziell Mühe gegeben, das rhetorisch gut rüberzubringen», sagt Niederer – schliesslich handle es sich um ein «ganz besonderes Ritual».

Jene Momente habe er als «emotional ergreifend» in Erinnerung: «Das Gebet bringt auch zum Ausdruck: Es ist nicht irgendeine Sitzung, die wir über uns ergehen lassen müssen, sondern eine Sitzung des Parlaments zum Wohle der Bevölkerung.» Es beginnt mit den Worten: «Allmächtiger Vater, wir bitten um deinen Beistand. Gib du, dass wir stets den rechten Rat zum Wohle aller finden. Lass uns reich sein an Einsicht und Erkenntnis zu der Aufgabe, die uns übertragen ist, und belebe du uns, dass wir alle treu und wahr zu dem stimmen, wozu das Gewissen uns mahnt». Niederers Prognose für dieses Parlamentsgebet: «Ich glaube nicht, dass die neue Verfassung das ändern wird.»

Gebet im Kantonsrat Appenzell Ausserrhoden | © Kanton AR
9. Dezember 2018 | 11:00
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Religiös gefärbte Rituale anderswo

Religiös gefärbte Rituale gibt es auch in anderen Schweizer Kantonsräten – aber weniger ausgeprägt als in Herisau. In Appenzell Innerrhoden eröffnet der Ratspräsident die Session mit Verweis auf den «Machtschutz Gottes». In Nidwalden und Schwyz gibt es ein stilles Gebet, laut Protokoll heisst es in Schwyz etwa: «Wir erheben uns zum stillen Gebet. Besten Dank.» In St. Gallen wird «eine halbe Stunde vor Beginn der Sitzung mit einer Glocke der Kathedrale geläutet». In der Waadt bittet der Präsident um den «göttlichen Segen über die Arbeit der Versammlung». In Genf gab es früher ein Gebet, nun lauschen die Kantonsräte am Anfang der Sitzung im Stehen den Worten: «Lassen Sie uns entschlossen sein, gewissenhaft unseren Auftrag zu erfüllen und unsere Arbeit dem Wohl des Landes zu dienen, das uns mit seinem Schicksal anvertraut hat.» (rr)