Benedikt XVI.
Kommentar

Ein Mahner in Zeiten des Umbruchs: Zum Tod von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.

Mit dem Tod von Benedikt XVI. ist der letzte bedeutsame Konzilstheologe und der erste – nach dem Beispiel von Coelestin V. am 5. Juli 1294 – freiwillig zurückgetretene Papst von uns gegangen. In beiden Rollen war er nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein Mahner in Zeiten des Umbruchs, an dem sich die Geister schieden. Ein Gastkommentar.

Mariano Delgado*

Eine Chimäre unserer Zeit

Mariano Delgado
Mariano Delgado

Hatte er 1960 am Vorabend des Konzils geschrieben, das Christentum lebe bei uns nicht in unserer eigenen, sondern in einer uns weitgehend fremden Gestalt, «der Gestalt des Mittelalters», weshalb die «primäre Aufgabe» heutiger Theologie im Nachholen des ausgefallenen Schritts zu unserem eigenen, «gegenwärtigen Geist» liege, so bedauerte er später angesichts mancher Konzilsrezeption, dass die Welt des Mittelalters hinausgeworfen wurde, als würde sie unwiderruflich der Vergangenheit angehören, wie der Pfarrer und der Barbier mit vielen Ritterromanen Don Quijotes verfuhren:

«Wir haben kühn und siegessicher die Tür einer vergangenen Epoche zugemauert und was dahinter lag aufgelöst und verschwunden erklärt. Es gibt in der konziliaren und nachkonziliaren Literatur unübersehbar das Genus der Verspottung, mit dem wir wie erwachsene Schüler von den veralteten Schulbüchern Abschied nehmen wollten. Aber inzwischen ist uns ein anderer Spott in die Ohren und in die Seele gedrungen, der mehr verspottet, als wir gemeint und gewollt hatten. Und langsam ist uns das Lachen vergangen; langsam haben wir gemerkt, dass hinter den verschlossenen Türen auch solches steckt, das unverloren bleiben muss, wenn wir nicht unsere Seele verlieren wollen. Gewiss, wir können nicht zurück ins Vergangene, und das wollen wir auch nicht. Aber wir müssen zu neuer Besinnung bereit sein auf das, was im Wechsel der Zeiten das wahrhaft Tragende ist.»

Joseph Ratzinger (l.), Erzbischof von München und Freising, und Papst Johannes Paul II. am 5. November 1979 im Vatikan.
Joseph Ratzinger (l.), Erzbischof von München und Freising, und Papst Johannes Paul II. am 5. November 1979 im Vatikan.

Das wahrhaft Tragende zu bewahren wurde dann zu seiner Lebensaufgabe. Joseph Ratzinger, der anhand des prophetischen Aufstandes der Dominikaner Españolas 1511 und des Wirkens des Bartolomé de Las Casas gegen die Unterdrückung der Indianer einen memorablen Aufsatz über «das Gewissen in der Zeit» für ein Gedenkbuch über Reinhold Schneider geschrieben hat, hielt seinen eigenen Aufstand für eine Gewissenspflicht. Das ist keine Frage.

Die grosse biographische Wende

Wir können nicht in seine spirituelle Biographie hineinschauen, sondern nur die Einblicke wahrnehmen, die er uns selbst in seinen Schriften erlaubt. Demnach muss der Gesinnungswandel irgendwann in seiner Tübinger Zeit stattgefunden haben, vermutlich 1967/68 als er seine Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis für Hörer aller Fakultäten hielt. Das 1968 unter dem Titel «Einführung in das Christentum» publizierte Buch wurde zum Bestseller und gehört zum Besten in der Gattung der zahlreichen Credo-Auslegungen des 20. Jahrhunderts.

Im Vorwort bemühte Ratzinger das deutsche Volksmärchen vom «Hans im Glück», um die nachkonziliare Situation auf die Pointe zu bringen. Wie Hans habe man den Schatz der Tradition gegen immer minderwertigere Ware ausgetauscht und laufe man nun Gefahr, «das wahrhaft Tragende» ganz zu verlieren. Spätestens hier reagierte Ratzinger auf das Konzil wie manche Revolutionäre auf den von ihnen angestossenen Umbruch: «So war es doch nicht gemeint». Von da an verstand er sich – mit anderen prominenten deutschsprachigen Theologen – als Wachhalter des wahren «Geistes» des Konzils.

Kardinal Joseph Ratzinger (l.) 1992 bei der Präsentation des Weltkatechismus.
Kardinal Joseph Ratzinger (l.) 1992 bei der Präsentation des Weltkatechismus.

Während seine theologische Produktion aus der Zeit vor diesem biographischen Umbruch (so etwa die in seinem Buch «Das neue Volk Gottes» gesammelten Aufsätze der 1960er Jahre) als bestes Beispiel historischer Theologie in systematischer, prospektiver Absicht zu betrachten ist, trat er danach eher als Bedenkenträger und Mahner auf – vor allem seit seiner Ernennung zum Erzbischof und Kardinal von München und Freising 1977 und seiner Berufung zum Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre 1982.

«Panzerkardinal» und «Mozart der Theologie»

Als Markenzeichen ist nach der Wende eine scharfe Feder geblieben, die sich eher an der flüssigen, gut lesbaren Prosa des Augustinus denn an der sprachlich holprigen Schultheologie des Thomas von Aquin orientiert. Die – bei deutschen Theologen selten vorkommende – Klarheit der Sprache trug dazu bei, dass man ihn gut verstand und sich die Geister an seinen pointierten Gedanken und Stellungnahmen zum kirchlichen Wandel und zur Situation der Zeit schieden. Für die einen war er nun der «Panzerkardinal», der theologische Innovationen kritisch beobachtete und mit seiner Autorität als Wächter über die Glaubenslehre oft im Keim zu ersticken versuchte. Für die anderen war er jedoch der «Mozart der Theologie», der scharfe Intellektuelle und theologische Ästhet, der neue Strömungen in das Bett des Traditionsflusses zu kanalisieren versuchte.

Die Auseinandersetzung um die Theologie der Befreiung Mitte der 1980er Jahre wurde zum Fanal für eine solche öffentliche Wahrnehmung seines Januskopfes. Auch wenn er später durch persönliche Kontakte – etwa mit dem Peruaner Gustavo Gutiérrez – das wahre spirituelle Anliegen der Theologie der Befreiung schätzen lernte, bleibt als Problem die Denkform seiner «Hermeneutik des Verdachts»: dass neue Strömungen oft durch das Prisma der eigenen Theologie beurteilt wurden, statt sich in die neuen Kontexte theologischen Denkens der Weltkirche nach dem Konzil hineinzuarbeiten. Seine eigene Theologie erhielt gleichsam lehramtlichen Rang und wurde zum Beurteilungskriterium für das wahrhaft Tragende.

Joseph Ratzinger (links) und Johann Baptist Metz im Jahr 1998.
Joseph Ratzinger (links) und Johann Baptist Metz im Jahr 1998.

Es ist anzunehmen, dass er die dogmatische Aussage von Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben «Ordinatio Sacerdotalis» vom 22. Mai 1994 über die Unmöglichkeit des Frauenpriestertums erheblich beeinflusste. Zu einem Zeitpunkt, in dem die theologische Diskussion zu diesem Thema gerade angefangen hatte und grosse Theologen wie Karl Rahner oder Mystikerinnen wie Edith Stein sich diese Innovation gut vorstellen konnten, wurde das theologische Nachdenken gleichsam mit einem nach dem Konzil zwar de iure weiterhin gültigen, aber de facto kaum mehr für möglich gehaltenen «solus papa» abgeblockt, wie es heisst «für alle Zeiten». Genauso «in saecula saeculorum» wie die dogmatische Entscheidung «extra ecclesiam nulla salus» des Konzils von Florenz 1442, mit der die nicht-katholische, dem Papst nicht-unterworfene Menschheit vom Heil ausgeschlossen wurde, während das Zweite Vatikanische Konzil sich mit einem gewandelten theologischen Bewusstsein anders dazu äusserte. Sollte der modus operandi bei so schwerwiegenden Fragen nicht darin bestehen, die theologische Diskussion in Freiheit zu ermöglichen und dann, wenn diese reif oder abgeschlossen ist, in einem Konzil oder in einer Synode der Weltkirche gemeinsam «mit dem Papst» darüber zu entscheiden?

Theologische Kontroversen

Um die Jahrtausendwende fand der sogenannte «Streit der Kardinäle» zwischen Kardinal Ratzinger und Kardinal Kasper statt. Es ging dabei um das Verhältnis von Universal- und Ortskirche, Primat und Episkopat und um synodale Strukturen, aber auch um die Rezeption der konziliaren Ekklesiologie. Kasper vertrat dabei Positionen, die später von Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013) indirekt bestätigt wurden, als dieser von der Notwendigkeit einer «heilsamen Dezentralisierung» sprach. Ratzinger hingegen kritisierte Kasper scharf, verteidigte eine ontologisch-platonische Vorrangstellung der Universalkirche und betonte eher den päpstlichen Primat als Kollegialität und Synodalität. Auch wenn der Streit freundschaftlich beigelegt und zum Teil auf Missverständnisse zurückgeführt wurde, sind die damit angesprochenen Fragen für die Zukunft einer synodalen Weltkirche grundlegend.

Kardinal Joseph Ratzinger und Walter Kasper 2004 im Vatikan.
Kardinal Joseph Ratzinger und Walter Kasper 2004 im Vatikan.

Mit dem Dokument der Glaubenskongregation «Dominus Iesus» (Jesus der Herr) vom 6. August 2000 über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi, das als scharfe Kritik am ökumenischen und interreligiösen Dialog zu verstehen ist, weil dieser zum Relativismus und Indifferentismus führe, schied Ratzinger erneut die Geister. Auch wenn Johannes Paul II. bemüht war, die Wogen zu glätten, wurde vielen klar, dass spätestens von da an Ratzingers Theologie das römische Lehramt stärker prägte als jeder Präfekt der Glaubenskongregation zuvor. Relativismus und Indifferentismus, das Damoklesschwert des vorkonziliaren, antimodernistischen Papsttums, um missliebige Theologien und Dialogprozesse zu diskreditieren, wurden wieder als Kampfbegriffe salonfähig. Nicht zuletzt dank seiner Homilie bei der Messe «Pro Eligendo Romano Pontifice« im Petersdom am 18. April 2005, in der er sprachgewaltig vor einer «Diktatur des Relativismus» warnte, wurde er zum Nachfolger von Johannes Paul II. gewählt.

Kardinal Joseph Ratzinger 2002 in Lugano
Kardinal Joseph Ratzinger 2002 in Lugano

Im Januar 2004 hatte er bei einem denkwürdigen Gespräch mit dem deutschen Philosophen Jürgen Habermas in München seine dialogische Fähigkeit gezeigt. Er verteidigte dabei die sich besonders im westlichen Christentum zeigende «notwendige Korrelationalität von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion, die zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen». Er warnte auch vor der westlichen Hybris und plädierte – quasi wie Hans Küng mit seinem «Projekt Weltethos» – für eine polyphone Korrelation mit den anderen Religionen und Kulturen auf dem Boden der Komplementarität von Vernunft und Glaube, «so dass ein universaler Prozess der Reinigungen wachsen kann, in dem letztlich die von allen Menschen irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen neue Leuchtkraft gewinnen können, so dass wieder zu wirksamer Kraft in der Menschheit kommen kann, was die Welt zusammenhält». Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Befürworter dieser «polyphonen Korrelation» auch für den Islam als Papst Benedikt XVI. mit der Regensburger Rede vom 12. September 2006 so arg missverstanden wurde.

Stärken und Schwächen

Aus seinem Papsttum wird vor allem die Antrittsenzyklika «Deus caritas est» (Gott ist Liebe) dauerhaft in Erinnerung bleiben, in der er das Wesen des Gottes klar darstellte, der sich uns in Jesus gezeigt hat, und den er nun von Angesicht zu Angesicht erkennen wird. Bleiben werden auch manche Reden wie zum Beispiel die vom 22. September 2011 im Deutschen Bundestag, bei der er von der «Ökologie des Menschen» sprach, weil dieser auch eine «Natur» habe, die gepflegt werden müsse. Historische Bedeutung hat sein überraschender und eindrucksvoller Rücktritt vom 11. Februar 2013. Dank dieser Entmythologisierung des Amtes, bei der er wahre Demut bekundete, werden solche Ereignisse in der künftigen Papstgeschichte vermutlich öfter vorkommen.

Papst Benedikt XVI. verkündet seinen Rücktritt, 11. Februar 2013.
Papst Benedikt XVI. verkündet seinen Rücktritt, 11. Februar 2013.

Ansonsten zeigte sein Papsttum deutlich die Stärken und Schwächen von Joseph Ratzinger: seine scharfe Intelligenz und seine brillante Sprache; seine Bemühungen um die Rettung dessen, was «Er» nach dem Konzil im Wechsel der Zeiten für das wahrhaft Tragende hielt, einschliesslich einer Ästhetisierung der Liturgie und des Papstamtes; seine besondere Sorge um die Zukunft des Christentums «in Europa», das Gefahr laufe, seine spirituellen Wurzeln in Jerusalem, Athen und Rom zu verkennen; seine Fähigkeit zur Wahrnehmung der «Wunden der Kirche» (besonders des Klerus), die er als Präfekt der Glaubenskongregation seit Jahrzehnten bestens kannte, verbunden mit seiner Unfähigkeit zur konsequenten Bekämpfung der Missbrauchsskandale sowie zur Reform der Kurie und der Kirche nach den verlorenen nachkonziliaren Jahrzehnten platonischer Kirchenidealisierung, die den Blick für die Wirklichkeit versperrten.

Nach seinem Rücktritt stand Papst Franziskus vor der Aufgabe einer deutlichen Kursänderung, die er im spanischen Original von Evangelii gaudium «conversión» (Neuausrichtung und Bekehrung zugleich) nannte. Man kann der Katholischen Kirche, die sich mit dem Konzil in der Welt von heute neu positionierte, nur wünschen, dass sie den neuen Kurs halten und die Freude der Evangelisierung, ihre Hauptaufgabe, wieder gewinnen wird. Denn wie Gilbert Keith Chesterton sagte, lebendige Tradition oder das wahrhaft Tragende im Wechsel der Zeiten ist die Rettung des «Feuers» (der Evangelisierung), nicht die Bewahrung der «Asche» einer vergangenen Kirchengestalt.

* Mariano Delgado (67) ist seit 1997 Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Freiburg i.Ü. und Dekan der Klasse VII (Weltreligionen) der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg).


Benedikt XVI. | © Keystone
3. Januar 2023 | 10:22
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