«Schweiz soll Beziehungsnetz der Kirche in Nahost nutzen»

Die Begegnung mit jungen Christen und Christinnen in Gaza hat den Generalsekretär der Schweizer Bischofskonferenz tief beeindruckt. Er ruft die Schweiz auf, diese Menschen zu unterstützen.

Georges Scherrer

Sie reisten mit einer internationalen Delegation von Bischöfen ins Heilige Land. Was war das wichtigste Ziel dieser Reise?

Erwin Tanner: Vom 11. bis 16. Januar 2020 weilte ich im Rahmen der so genannten Heiligland-Koordination in Israel und Palästina beziehungsweise im Westjordanland und Gaza. Dieses seit rund zwanzig Jahren jährlich stattfindende Treffen von Bischöfen aus den verschiedensten Erdteilen im Heiligen Land verfolgt folgende allgemeine Ziele: Beten, Pilgern, Druck ausüben und Präsenz zeigen.

2020 lag der Fokus auf dem Thema «Visionen für die Zukunft. Aussichten auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Friede für das Heilige Land» – konkret in Ramallah, Bethanien, Gaza und Jerusalem.

Was beschäftigt die Leute aktuell?

Tanner: Gespräche vor Ort haben gezeigt, dass der wachsende Islamismus, die israelische Besetzung und die hohe Arbeitslosigkeit den Menschen schwer – ja immer schwerer – aufliegt und tiefe bis unerträgliche Existenzängste auslöst.

«Es bleibt der Kirche das Anmahnen der Einhaltung internationalen Rechts.»

Diesen Menschen im Gebet, im Zuhören und im Gespräch nahe zu sein und sie mit Begegnungen bei zivilgesellschaftlichen und staatlichen Verantwortungsträgern in ihren Bemühungen zu unterstützen, war ein konkretes Ziel dieser Reise.

Können katholische Bischöfe Einfluss üben auf das Geschehen in Israel und den besetzten Gebieten?

Tanner: Wenn sich Bischöfe aus verschiedenen Ländern für die Situation im Heiligen Land  – Israel und Palästina – interessieren, einen Augenschein vor Ort nehmen und sich über die dortigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen kritisch äussern, dann bleibt das von offizieller israelischer Seite nicht ungesehen und ungehört und wird sorgfältig verfolgt.

Bischofsdelegation vor der israelischen Mauer
Bischofsdelegation vor der israelischen Mauer

Es kommt zu Gesprächen zwischen den Bischöfen und Amtsstellen direkt vor Ort oder dann zuhause mit den eigenen Behörden oder den israelischen Vertretungen. Dies zeigt, dass die Beobachtungen der Heiligland-Koordination im Sinne der Informations- und Sensibilisierungsarbeit politisch wertvoll sind.

Gibt es konkrete Erfolge?

Die Gestaltung der Lage im Heiligen Land verkommt mehr und mehr zu einem reinen Machtspiel vor Ort, das vom Ausland aus mitgesteuert wird. Es bleibt für die Kirche hier und dort das unentwegte Anmahnen der Einhaltung internationalen Rechts, insbesondere der menschenrechtlichen Standards, das Auffordern zur Schaffung von Voraussetzungen für ein friedliches und sicheres Zusammenleben aller Menschen jenseits des völkerrechtswidrigen Mauer- und Siedlungsbaus und das Auffordern zur Weiterarbeit an einer Zwei-Staaten-Lösung.

«Krass, einfach krass! Die Mauer trennt, erdrückt und erniedrigt.»

Welchen Eindruck hat auf Sie die Mauer gemacht, die auf drei Seiten das Kloster der Comboni-Schwester umschliesst?

Tanner: Ich stand da auf dem von Molotowcocktails gezeichneten Spielplatz des Kindergartens direkt vor dieser rund 10 Meter hohen Mauer und sagte mir: krass, einfach krass! Die Mauer trennt, erdrückt und erniedrigt. Wie sollen hier in den Kindergarten und zur Schule gehende Kinder je zu einem normalen Leben fähig werden?

«Neutralität der Schweiz ist glaubwürdige Grundlage für vermittelnde Rolle.»

Eine Schwester erzählte mir, dass sie jenseits der Mauer wohnt; vor dem Mauerbau hatte sie ein paar Minuten zur Schule und zum Kindergarten und heute muss sie einen Umweg von rund 18 Kilometern machen und braucht dafür im Durchschnitt etwa eine Stunde!

Welche Möglichkeiten hat die Schweiz, um gewaltfrei zur Lösung der verworrenen Situation im Heiligen Land beitragen? Was kann die Kirche tun?

Tanner: Der aussenpolitische Grundsatz der Neutralität gibt der Schweiz eine glaubwürdige Grundlage für eine vermittelnde Rolle zwischen den Konfliktparteien; sie soll ihre guten Dienste wann immer möglich anbieten und zugleich jede Form von Gewalt – einerlei von welcher Seite sie kommt –, klar und eindeutig zurückweisen.

Der Staat tut gut daran, die Kirche mit ihrem Beziehungsnetz in der Nahostregion einzubeziehen, um Synergien zu nutzen und Massnahmen zu verstärken. Über das Gebet, Pilgerfahrten ins Heilige Land, die finanzielle Unterstützung bedürftiger Menschen und die Förderung des interreligiösen Dialoges kann die Kirche zusätzlich zu einer friedlichen Lösung beitragen.

Erwin Tanner in Ramallah, Westjordanland
Erwin Tanner in Ramallah, Westjordanland

Was für Impulse nehmen Sie für die Arbeit der Bischöfe in der Schweiz mit nach Hause?

Tanner: Die Fortsetzung des Engagements im Rahmen der Heiligland-Koordination ist unerlässlich zur Festigung der Solidarität mit den Christen im Heiligen Land. Die Bischöfe sollen nicht aufhören, ein wachsames Auge auf die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten zu werfen, den dort noch lebenden Christen eine verstärkte Stimme zu geben und sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu unterstützen.

Was war für Sie die beeindruckendste Begegnung?

Die Begegnung mit jungen Christen und Christinnen in Gaza, die trotz aller widriger Umstände bleiben und ihre Zukunft dort aufbauen wollen. Deren Glaube und Willenskraft hat mich tief berührt. Helfen wir, dass diese zarten Pflanzen dort wachsen können!

Erwin Tanner auf dem Comboni-Kloster vor der israelischen Mauer | © flickr/Mazur/cbcew.org.uk, CC BY-NC-SA 2.0
21. Januar 2020 | 15:52
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