Mariano Delgado, Kirchenhistoriker in Freiburg
Schweiz

«Die Revolution von 1968 spaltete die Theologie»

Freiburg, 29.5.18 (kath.ch) 1968 gingen in Europa die Studenten auf die Barrikaden, auch die sexuelle Revolution nahm ihren Lauf. Im gleichen Jahr sprach Papst Paul VI. mit «Humanae Vitae» einen Bann gegen alle künstlichen Verhütungsmittel aus. kath.ch hat den Freiburger Kirchenhistoriker Mariano Delgado gefragt, was 1968 mit der Theologie gemacht hat.

Barbara Ludwig

Was unterscheidet die Theologie von vor 1968 von derjenigen, die sich nachher entwickelte?

Mariano Delgado: In der Theologie stellt sich die Frage, ob 1968 wirklich die Zäsur ist und nicht bereits das Zweite Vatikanischen Konzil, das von 1962 bis 1965 dauerte. Das Konzil hat für einen grossen Wandel in der katholischen Kirche gesorgt – in der Theologie, der Liturgie und im praktischen Leben. Für den Schweizer Religionssoziologen Franz-Xaver Kaufmann stellt das Konzil einen Perspektivenwechsel dar, der durchaus mit der Kopernikanischen Wende vergleichbar ist.

Heisst das, 1968 spielte keine Rolle für den Wandel der Theologie?

Delgado: Es gibt Analogien zwischen der Kirchenversammlung und 1968. Die 1960er Jahre waren ein grosser Transformationsprozess der westlichen Welt. Teil dieses Prozesses waren auf kirchlicher Ebene das Konzil und auf der politischen und sozialen Ebene die 68er-Bewegung.

«Der grosse theologische Frühling wurde vom Geist von 1968 befruchtet.»

Der grosse theologische Frühling, den das Konzil angestossen hatte, wurde vom Geist von 1968 befruchtet – aus Sicht derjenigen Theologen zumindest, die diese Ereignisse positiv deuteten und die eine offensive Auslegung des Konzils anstrebten. Sie wurden darin bestätigt, dass ein grösserer Wandel nötig ist, auch innerhalb der Kirche.

Sie deuten an, dass nicht alle Theologen damals 1968 als etwas Positives betrachteten.

Delgado: Ja. Andere Theologen wurden nachdenklich. Sie fragten sich, ob der Geist von 1968, wenn er sich mit der Wahrnehmung des Konzils in den ersten Jahren danach verbünden würde, der richtige Weg für die Kirche sei. Ehemals begeisterte Befürworter des Konzils begannen sich zu sorgen.

Beispielhaft für diese Kehrtwende steht Joseph Ratzinger. 1967 und 1968 war er Professor für systematische Theologie in Tübingen. Er sah vor Ort, wie sich die Umbrüche von 1968 an der Universität und der theologischen Fakultät auswirkten. Im Vorwort zu seinem Buch «Einführung in das Christentum» aus dem Jahre 1968 schrieb er unter Anspielung auf das Märchen «Hans im Glück», dass die Menschen dabei seien, den grossen Schatz der Tradition über Bord zu werfen.

Es gab also eine Spaltung innerhalb der Theologie.

Delgado: Ich kann das an zwei Beispielen aufzeigen. 1965 haben die progressivsten Theologen des Konzils, darunter Karl Rahner, Hans Küng, Yves Congar, Edward Schillebeeckx – und zunächst auch noch Joseph Ratzinger –  eine neue theologische Zeitschrift mit dem Titel «Concilium» gegründet. Der Titel war Programm. Die internationale Zeitschrift sollte in den wichtigsten Sprachen der Kirche erscheinen und durch die Feder der besten Theologen der Zeit den Geist des Konzils fördern.

«Ehemals begeisterte Befürworter des Konzils begannen sich zu sorgen.»

1968 aber entstand eine Gegenbewegung in der katholischen Theologie, nicht zuletzt auch wegen der Sorgen und Ängste, die die 68er-Bewegung bei manchen auslöste. Ihre Vertreter fanden: «So kann es nicht weitergehen. Wir brauchen einen anderen Blick auf das Konzil.» Auch diese Theologen, die sich um die grosse Gestalt von Hans Urs von Balthasar scharten und zu denen Joseph Ratzinger und Karl Lehmann gehörten, gründeten eine Zeitschrift. Ihr Titel lautet «Communio». Auch sie sollte mehrmals jährlich in den wichtigsten Sprachen der katholischen Welt erscheinen. Aber mit einem anderen Geist, was die Theologie und die Bedeutung des Konzils betrifft – und mit einer anderen Einstellung gegenüber 1968.

Entstanden nach 1968 an den Fakultäten neue theologische Fächer?

Delgado: Wie ich bereits sagte, veränderte sich die Theologie vor allem durch den Geist des Konzils.  Schon vorher, in den 1950er Jahren, waren aber an vielen Fakultäten theologische Disziplinen wie Liturgie, Pastoraltheologie und Religionspädagogik etabliert.

Gerade diese Fächer, also die Disziplinen praktischer Theologie, nahmen mit dem konziliaren Wandel einen Aufschwung – ebenso die Fundamentaltheologie. Doch hier spielte auch der Geist von 1968 eine gewisse Rolle, da er den sozialen Blick auf die Gesellschaft und das kirchliche Handeln geschärft hatte.

1968 war auch das Jahr, in dem Papst Paul VI. die Enzyklika «Humanae Vitae» veröffentlichte. Wollte er damit die sexuelle Revolution stoppen?

Delgado: Es war die katholische Antwort auf die sogenannte sexuelle Revolution. Die Enzyklika wollte einerseits auf gewisse bleibende Werte aufmerksam machen, etwa auf den Wert von Ehe und Familie und von Nachkommenschaft. Und sie wies darauf hin, dass die Sexualität nicht einfach nur ein Trieb ist, mit dem wir nach Lust und Laune umgehen sollen, sondern eine Gabe des Schöpfers, die wir mit Mass und mit Bedacht nutzen sollen. Andererseits stellt sich die Frage, ob es der richtige Weg war, einfach alle künstlichen Verhütungsmittel in Bausch und Bogen zu verwerfen.

«Die Sexualität ist nicht einfach nur ein Trieb.»

An «Humanae Vitae» schieden sich schon damals die Geister. Wenn man etwas plakativ sagen darf: Die Theologen von «Concilium» zum Beispiel äusserten sich immer wieder sehr kritisch dazu. Sie würde moraltheologische Vorstellungen verschärfen und zu weit in das Eheleben und das Gewissen der Menschen eingreifen. Die Theologen von «Communio» dagegen hoben den Lehrgehalt und die Bedeutung des Schreibens hervor.

1971 machte sich der Freiburger Moraltheologe Stephan Pfürtner mit einem Vortrag über Sexualmoral unbeliebt und musste 1974  zurücktreten. Der fast 50-Jährige war sehr offen für die Lebenswelt der damaligen jungen Menschen.

Delgado: Stephan Pfürtner war eine aussergewöhnliche Gestalt, als Theologe und als Mensch. Im Zweiten Weltkrieg exponierte er sich, um Juden zu retten. Er nahm die Sorgen der Menschen wahr und dachte als Moraltheologe sehr offen darüber nach. Das Gewissen stellte er über alles. Aufgrund seiner Erfahrungen im Dritten Reich hatte er sich vermutlich eine gewisse Unerschrockenheit zugelegt.

«Denunziation in Rom, Infragestellung und Entzug der Lehrerlaubnis»

Seit 1966 lehrte Pfürtner in Freiburg. In seinem aufsehenerregenden Berner Vortrag  von 1971 unter dem Titel «Moral – was gilt heute noch?» scheint er den Grundtenor von «Humanae Vitae» in Frage gestellt zu haben. Das kam bei einigen Zuhörern nicht gut an. Sie beschwerten sich. Und damit kam das ins Rollen, was leider typisch ist in der katholischen Kirche: Denunziation in Rom, Infragestellung und dann Entzug der Lehrerlaubnis.

Was typisch ist, sagen Sie. Das ist also heute noch so?

Delgado: Leider ist diese Mentalität noch nicht ganz verschwunden. Ich könnte – auch aus dem persönlichen Lebensweg – einige Beispiele nennen, verzichte aber darauf.

Gab es an der Uni Freiburg 1968 so richtig wilde Zeiten mit Studentenprotesten?

Delgado: Ja. Es ging dabei um Forderungen in verschiedenen Bereichen, mit denen der damalige Rektor, der Fundamentaltheologe Heinrich Stirnimann, konfrontiert wurde. Die Studierenden forderten etwa den Bau einer Mensa oder eine angemessene Vertretung von Studierenden und Assistierenden in den Gremien.

«Das Reich Gottes muss in dieser Welt sichtbar werden.»

Aber für die Theologie bedeutsamer waren die Proteste zur Zeit, als man an der Universität Freiburg die Theologie der Befreiung entdeckte. Anfang der 1980er Jahre hielt der argentinische Befreiungstheologe und -philosoph Enrique Dussel eine Vorlesung an der Fakultät. Er begeisterte vor allem die deutschsprachigen Studierenden für diese neue Art der Theologie und Philosophie. Für die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit als globalem Problem – für die Idee schliesslich, dass das Reich Gottes in dieser Welt sichtbar werden muss.

Mariano Delgado, Kirchenhistoriker in Freiburg | © Barbara Ludwig
29. Mai 2018 | 12:57
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