Raphael Rauch ist Redaktionsleiter von kath.ch
Kommentar

Die offenen Fragen von Lugano – und eine Entschuldigung

Entführung, Nötigung, Körperverletzung: Die schweren Vorwürfe der Tessiner Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen Generalvikar Azzolino Chiappini haben sich als haltlos herausgestellt. Das Bistum Lugano muss sich kritischen Fragen stellen – ebenso wir Medien.

Raphael Rauch

Gibt es im Tessin eine zweite Natascha Kampusch? Die Nachricht, der ehemalige Generalvikar des Bistums Lugano habe jahrelang eine Finnin gefangen gehalten, erinnerte zunächst an einen Fall in Österreich. Hier hielt ein Mann das Mädchen Natascha Kampusch jahrelang und unbemerkt in seinem Haus fest.

Offene Fragen bleiben unbeantwortet

Die gute Nachricht von Lugano lautet: Der Fall ist harmloser als gedacht. Eine 48 Jahre alte Finnin wurde von ihrem Vertrauensmann, dem ehemaligen Generalvikar und emeritierten Theologie-Professor Azzolino Chiappini, weder festgehalten noch drangsaliert. Sondern sie leidet an schweren psychischen Problemen. Die führten dazu, dass sie sich von der Aussenwelt abschottete, nicht einmal mehr die Stromrechnung bezahlte – und sich die Pakete vor der Wohnung stapelten.

Azzolino Chiappini
Azzolino Chiappini

Die schlechte Nachricht lautet: Es gibt offene Fragen, die bislang unbeantwortet blieben. So hat die Justiz keine Erklärung dazu abgegeben, warum sie einen 80 Jahre alten Priester drei Tage lang in Untersuchungshaft festhielt.

Braucht man drei Tage, um ein Missverständnis zu klären?

Gingen die Behörden wirklich davon aus, dass ein angesehener Theologie-Professor einfach untertauchen würde? Oder die nicht begangene Tat verdunkeln und ins Ausland fliehen würde? Und das mit 80 Jahren, inmitten einer Pandemie?

Die Schweizer Bischofskonferenz 1985.
Die Schweizer Bischofskonferenz 1985.

Und dauert es wirklich drei Tage lang, um festzustellen, dass es sich um ein tragisches Missverständnis handelte? Um mangelnde Fürsorge, Überfordertsein, falsche Rücksichtnahme – nicht aber um ein Verbrechen?

Die Domherren schauten weg

Doch auch das Bistum Lugano lässt Fragen unbeantwortet. Wie kann es sein, dass ein 80 Jahre alter, zölibatär lebender Priester mit einer 48 Jahre alten Finnin zusammenlebt, diese nicht mehr die Wohnung verlässt, sich die Pakete vor der Wohnungstür stapeln – und niemand davon etwas mitbekommen haben will?

Messe zur Wiedereröffnung der Kathedrale Lugano, 2017
Messe zur Wiedereröffnung der Kathedrale Lugano, 2017

Der ehemalige Generalvikar wohnte nicht in einem Landhaus in den Tessiner Bergen, sondern mitten in der Altstadt von Lugano. Etwa 200 Meter entfernt von der Kathedrale – zusammen mit anderen Domherren. Warum liessen sie den Erzpriester gewähren, konfrontierten oder halfen ihrem Mitbruder nicht? «Keiner von ihnen ist eingeschritten, obwohl die Anormalitäten offenkundig waren», sagt ein Kenner der Diözese.

Auch wir Medien haben Fehler gemacht

Zulange hat die katholische Kirche weggeschaut, wo sie hätte hinschauen müssen. Zu lange blieb sie sprachlos, wo sie hätte kommunizieren müssen. Der Vorfall von Lugano ist weniger schlimm, als alle dachten. Aber schlimm genug ist, dass nun alle zur Tagesordnung übergehen. Dabei wäre Aufklärung angesagt.

Blick auf die Kathedrale San Lorenzo in Lugano
Blick auf die Kathedrale San Lorenzo in Lugano

Selbstkritisch müssen wir anmerken: Auch die Medien haben Fehler gemacht. Auch wir bei kath.ch. Wir haben über die angeblich «dunkle Seite des Ex-Generalvikars» berichtet, von «zwölf Jahren Martyrium» gesprochen und das Entsetzen in der Diözese thematisiert.

Bitte um Entschuldigung

Natürlich haben wir stets nach bestem Wissen und Gewissen berichtet und stets auf die Unschuldsvermutung verwiesen. Doch wer von anderen mehr Kommunikation einfordert, muss selbst umso klarer darlegen, wenn die Hypothesen falsch waren. In diesem Fall lagen auch wir daneben. Dafür bitten wir um Entschuldigung.


Raphael Rauch ist Redaktionsleiter von kath.ch | © zVg
25. Februar 2021 | 18:32
Lesezeit: ca. 2 Min.
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