Krippe
Schweiz

Die Flasche der «Hoffnung wider alle Hoffnung» füllen

Mit dem Bibelzitat «Kommt, wir gehen nach Bethlehem…» (Lk 2,15) beleuchtet Mariano Delgado die Geschichte vom Kind in der Krippe als «Retter der Welt». Es brauche den Kindheitsglauben, um diese Geschichte auch mit dem Herzen zu verstehen, findet er.

Mariano Delgado*

Alle Jahre wieder werden wir eingeladen, wie die Hirten nach Bethlehem zu gehen, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr durch seine Engel verkünden liess: «Heute ist Euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr» (Lk 2, 11). Angesichts dieser Botschaft und der Faktizität einer vielfach heillosen Weltgeschichte – ja, auch einer vielfach heillosen Kirche, die «das Licht der Welt» mit dem Gegenzeugnis vieler Mitglieder oft verdunkelt –, sind wir vielleicht versucht, die Worte des Skeptikers Arthur Schopenhauer über die Auferstehung Jesu analog auf die Weihnachtsgeschichte zu übertragen: «Wissen Sie schon das Neuste?» – «Nein, was ist passiert?» – «Der Retter der Welt ist geboren, der Messias!» – «Was Sie sagen!» – «Ja, er ist ganz ärmlich in einem Stall zu Bethlehem geboren und wird uns von der Macht des Bösen erlösen!» – «Ei, das ist ja ganz charmant.»

Mariano Delgado, Kirchenhistoriker.
Mariano Delgado, Kirchenhistoriker.

«Messias» und ein Leben in Fülle

Denn mit dem «Messias» werden in der Tradition der Propheten Israels der Anbruch und die Vollendung der «messianischen» Zeit assoziiert. Diese soll eine Zeit der Gerechtigkeit und des Friedens sein, der Wahrheit und der Freiheit, eines menschenwürdigen «Lebens in Fülle» (Joh 10,10) für alle, eine Zeit, in der den Armen eine gute Nachricht gebracht wird, den Gefangenen die Entlassung und den Blinden das Augenlicht (Lk 4,18). Aber die Welt scheint auch mehr als 2000 Jahre nach der Geburt des «Retters» oder «Messias» weiterhin «unter der Gewalt des Bösen» (1 Joh 5,19) zu stehen.

Schlimmste Gewalt gegen die Nächsten

Die historische Anthropologie lehrt uns, dass wir in der Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart hinein die schlimmsten Formen der Gewalt wider den Nächsten finden. Der Mensch ist die einzige Spezies, die sich selbst auslöschen könnte – von der hemmungslosen Ausbeutung der aussermenschlichen Natur durch die so genannte «Krone der Schöpfung» zu schweigen. Um nur ein Beispiel zu nennen, das die «christlichen Nationen» betrifft: 1815 beschworen die Völker Europas im Manifest der Heiligen Allianz, «sich untereinander nur als Glieder einer und derselben Nation von Christen anzusehen» und ein friedliches Europa aufzubauen.

Aber hundert Jahre später gingen sie beim Ersten Weltkrieg brutal aufeinander los, und auf allen Seiten hielten Vertreter der jeweiligen Kirchen feurige Kriegspredigten. Wir erleben heute auch Ähnliches vor unseren Augen: Russland bricht die grundlegenden Verpflichtungen einer regelbasierten und menschenrechtsorientierten internationalen Zusammenarbeit, die mit dem KSZE-Prozess in Europa verbindlich vereinbart wurden… und schon wieder herrscht Krieg unter christlichen Völkern, die sich als «Brüdervölker» bezeichnen.

Von Russland bombardiert: Brovary nahe Kiew am 1. März 2022.
Von Russland bombardiert: Brovary nahe Kiew am 1. März 2022.

Menschheit in Zivilisationsprozess

Die historische Anthropologie verzeichnet auch Positives. Demnach befindet sich die Menschheit in einem Zivilisationsprozess (wer hat nicht vor und nach Lessings Schrift von der «Erziehung des Menschengeschlechts» geträumt?), der zur Zähmung oder Kontrolle der tierischen Natur des Menschen führen und die Zeit des «ewigen Friedens» eröffnen werde.

Aber die Geschichte verläuft nicht wie eine aufsteigende Linie auf das messianische Friedensreich zu. Sie ähnelt vielmehr einer Spirale mit Rück- und Fortschritten. Wir werden manchmal zurückgeworfen und müssen uns des Potenzials unserer Selbstzerstörungskräfte wieder bewusst werden, um den nochmaligen Beschluss zu fassen, eine neue, friedliche Weltordnung auf der Basis von Gerechtigkeit und Recht zu schaffen.

Einheit der «Menschheitsfamilie»

Die Fortschritte in den letzten Generationen sind nicht zu übersehen: das Bewusstsein der Einheit der «Menschheitsfamilie» ist gewachsen, nicht zuletzt dank der Wirkung des biblischen Gedankens der universalen Gottebenbildlichkeit aller Menschen; es sind internationale Foren entstanden, um die Weltprobleme gemeinsam zu besprechen und zu lösen; bei Katastrophen ist eine weltweite Solidarität schnell spürbar; die Reisen und die Medien bringen uns täglich bei, dass die leidenden Fernsten uns zum Nächsten werden können – jenseits der Grenzen von Religion, Klasse und Nation. Gewiss, die COVID-Pandemie oder die Situation der Menschen auf der Flucht zeigen uns, dass wir noch nicht fähig sind, humanitäre Katastrophen global ganz zu meistern…, aber verglichen mit früheren Zeiten kann man wohl sagen, dass die Welt ein Stück weit «zusammengewachsen» ist.

Skeptiker wiederum ziehen den Schluss, dass ein solcher Zivilisierungsprozess aus der Geschichte nicht hervorgehe, sondern lediglich die Perfektion der Waffen beziehungsweise der Kriegsmaschinerie. Trotz der Menschwerdung, des Kreuzestodes und der Auferstehung Jesu als ewiger Sohn und sichtbares Bild seines Vaters scheint die Welt noch nicht erlöst zu sein.

Lamm ist stärker als Drache

Angesichts dieser Situation hat die Theologie Denkmodelle wie das «Schon-Jetzt-Aber-Noch-Nicht» entwickelt: Das Reich Gottes, das Reich des Messias ist bereits angebrochen und wirkt in der Welt durch das Tun der Liebe (Mt 25) und den Einsatz der (auch anonymen) Christinnen und Christen sowie der Menschen guten Willens, damit alle ein menschenwürdiges Leben haben können. Und auch wenn dieses Reich hier vielleicht nicht in Vollendung gehen wird, weil der harte «Kampf gegen die Mächte der Finsternis …, der schon am Anfang der Welt begann, nach dem Wort des Herrn bis zum letzten Tag andauern wird» (so das Zweite Vatikanische Konzil in «Gaudium et spes» 37), sollten wir uns beständig darum bemühen, «dem Guten anzuhängen» sowie die kontrafaktische Hoffnung wachzuhalten, dass im dramatischen Kampf der Geschichte das Lamm letztlich stärker als der Drache sein wird.

Die Anbetung des Lammes und der Quell des Lebens aus dem Genter Altar
Die Anbetung des Lammes und der Quell des Lebens aus dem Genter Altar

Wollen wir Schopenhauers Skeptizismus entgegentreten, so brauchen wir angesichts der Weihnachtsgeschichte den wärmenden und staunenden Kindheitsglauben, den Glauben der Hirten und der drei Könige, die nicht zögerten, dem Kind in der Krippe, dem «gütigen und von Herzen demütigen» (Mt 11,29) Messias, zu huldigen, weil sie darin eine Hoffnung für Israel und die gesamte Menschheit sahen.

Der Mantel des kindlichen Glaubens

Den Studierenden der Theologie sage ich immer: wenn wir jemanden im Winter besuchen, legen wir den Mantel ab. Analog dazu sollten wir, wenn wir das Haus der Theologie betreten, den uns wärmenden Mantel des kindlichen Glaubens, des Glaubens der ersten Naivität an die Garderobe hängen. Denn das Studium der Theologie hat mit der «Anstrengung des Begriffs» (Karl Rahner) zu tun, mit der Hinterfragung aller Selbstverständlichkeiten, mit dem Feuer der Kritik, die wir nicht den Religionskritikern oder den Skeptikern überlassen dürfen, sondern selbst zu praktizieren haben.

Aber wenn die Studierenden am Ende ihres Studiums den Mantel des kindlichen Glaubens in der Garderobe vergessen, als ob sie ihn in dieser «winterlichen Zeit» der Moderne nach dem Verlust der «ersten Naivität» nicht mehr bräuchten, haben sie die falschen Schlüsse gezogen. Denn in religiös-existenziellen Fragen brauchen wir nicht nur die Gründe des Verstandes, sondern auch, wie Blaise Pascal gut wusste, die Gründe des Herzens, die «raisons du cœur». Bei aller Anstrengung des Begriffs wird unser Erkennen hier immer Stückwerk bleiben und zuweilen auch zu mehr Fragen als Antworten führen: «Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin» (1 Kor 13,12).

Durch die Wüste mit einer Wasserflasche

Deswegen tut es gut, den wärmenden Mantel des Kindheitsglaubens von der Garderobe zu nehmen und in unserem Herzen die Geschichte vom Kind in der Krippe als «Retter der Welt» zu bewahren… Der Unterschied zwischen den Glaubenden und den Skeptikern ist, dass die ersten durch die Wüste des Lebens mit einer Wasserflasche marschieren. Ja, allem Skeptizismus zum Trotz werden wir alle Jahre wieder eingeladen, nach Bethlehem zu gehen – oder zur Quelle anderer Religionen, wenn man sich zu ihnen redlich bekennt – und die Flasche der «Hoffnung wider alle Hoffnung» zu füllen.»

* Mariano Delgado ist Professor für Kirchengeschichte und Direktor des Instituts für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog an der Universität Freiburg (Schweiz) sowie Dekan der Klasse VII (Religionen) der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg).


Krippe | © zVg
15. Dezember 2022 | 15:56
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