Mariano Delgado leitet die Theologische Fakultät Freiburg
Schweiz

Delgado: «Gesellschaften brauchen Sündenböcke»

Was macht Verschwörungstheorien für Teile der katholischen Kirche so interessant? Es geht um das Ringen um die Moderne, sagt der Freiburger Kirchenhistoriker Delgado.

Raphael Rauch

Erzbischof Carlo Maria Viganò zählt zu den lautesten Gegnern von Papst Franziskus. In einer Petition zur Corona-Krise nennt er Kräfte, «die daran interessiert sind, in der Bevölkerung Panik zu erzeugen». Es geht um «fremde Mächte» und «supranationale Einheiten» mit unklaren Absichten und «sehr starken politischen und wirtschaftlichen Interessen».

Komplizierte Welt, einfache Erklärungen

Mariano Delgado ist kein Mensch, der sich schnell empört. Der Dekan der Theologischen Fakultät in Freiburg sagt zu kath.ch: «Das Ganze ist eigentlich so lächerlich, dass es sich von selbst diskreditiert.» Der Kirchenhistoriker hält es lieber mit dem Jesuiten Balthasar Gracian: «Die Nichtbeachtung einer Sache ist die grössere Verachtung.»

Trotzdem sieht er die katholische Kirche immer wieder empfänglich für Verschwörungstheorien. «Die Welt ist komplizierter, als wir denken können. Deswegen haben manche eine Sehnsucht nach einfachen Erklärungen und vereinfachen stark. Das ist ein altes Motiv: Gesellschaften brauchen Sündenböcke.» kath.ch hat nachgehakt.

Welche Verbindung sehen Sie zwischen der katholischen Kirche und Verschwörungstheorien?

Delgado: Es gibt eine longue durée: Seit der französischen Revolution tut sich der Katholizismus schwer mit der modernen Welt. Im ganzen 19. und 20. Jahrhundert gab es Verschwörungstheorien. Die Moderne wurde als Aufstand gegen die traditionelle Moral verstanden, um den Einfluss der katholischen Kirche zu beschneiden. Schuld waren oft der Liberalismus, der Kommunismus, das Weltjudentum oder die Freimaurer.

Und heute, im 21. Jahrhundert?

Delgado: Die Notstandsmassnahmen unserer Regierungen sind bis in den Bereich der Religionsfreiheit gegangen. Manche haben das so verstanden, als ob dahinter ein System steht, das sich gegen die Kirche richtet. Sie merken nicht, dass sie Teil der Gesamtmassnahmen sind, die alle Kulte betreffen. Denn für den Schutz des Lebens müssen alle Anstrengungen unternommen werden. Solche Massnahmen sind zu erdulden, wenn sie zeitlich befristet sind.

Welches Argument der Petition können Sie nachvollziehen?

Delgado: Man kann den Weckruf anders gestalten, ohne Verschwörungstheorien zu bemühen. Man muss wachsam sein. Sich Freiheiten und Grundrechte nicht nehmen lassen. Also wachsam bleiben, dass die Notmassnahmen angemessen und befristet sind.

Kardinal Müller unterstützt die Petition. Er ist im Bistum Chur ein gern gesehener Gast.

Delgado: Der Katholizismus in der Schweiz ist stark vom Zweiten Vatikanischen Konzil geprägt. Aber es gibt auch Unzufriedenheit mit einer liberalen Rezeption des Konzils – stärker als anderswo.

Was ist aus Ihrer Sicht jetzt das Gebot der Stunde?

Delgado: Das Zweite Vatikanische Konzil hat uns einen mühsameren, aber einen interessanteren Weg für die Auseinandersetzung mit der modernen Welt gegeben: Die Unterscheidung der Geister, die Anstrengung des Begriffes. Wir dürfen uns nicht scheuen, differenziert zu denken. Wenn wir das tun, werden wir wachsam bleiben müssen, ohne Verschwörungstheorien das Wort zu reden.


Mariano Delgado leitet die Theologische Fakultät Freiburg | © zVg
14. Mai 2020 | 07:00
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