Sabine Demel
International

Das katholische Kirchengesetzbuch wird 100 Jahre alt

Regensburg, 27.5.17 (kath.ch) Am 27. Mai ist es 100 Jahre her, dass die katholische Kirche erstmals ein eigenes Gesetzbuch erlassen hat: den Codex Iuris Canonici, kurz CIC. Im Interview spricht Sabine Demel* (54), Professorin für Kirchenrecht an der Universität Regenburg, über Gnade, Gewaltenteilung und das Jüngste Gericht.

Christoph Renzikowski

Wozu braucht die katholische Kirche ein eigenes Gesetzbuch?

Sabine Demel: Weil sie als religiöse Gemeinschaft Sachverhalte regeln muss, die eine weltliche Rechtsordnung nicht regeln kann und auch nicht regeln darf, beispielsweise den Sakramentenempfang oder die Verkündigung der Glaubenslehre oder die Besetzung von kirchlichen Ämtern. Hier muss die katholische Kirche ihre eigenen Regeln entwerfen, die ihrem Selbstverständnis als einer von Gott gegründeten und auf ihn ausgerichteten Gemeinschaft entsprechen. Deshalb geht es bei der Rechtsordnung der katholischen Kirche nie nur um eine Gemeinschaftsordnung – das auch -, sondern immer auch darum, dass die kirchliche Heilssendung verwirklicht wird.

Wie verhält sich das Kirchenrecht zum staatlichen Recht? Im Missbrauchsskandal wurde es der Kirche zum Verhängnis, dass sie auf ihre Selbstregulierungskräfte vertraut hat.

Demel: Beim sogenannten Missbrauchsskandal ist die Zuständigkeit der weltlichen Rechtsordnung von päpstlicher und bischöflicher Seite systematisch unterlaufen worden: Statt den weltlichen Strafbehörden jeden sexuellen Missbrauch zu melden, ist von vielen katholischen Bischöfen flächendeckend und jahrzehntelang eine rein interne und nach eigenem, oft ausschliesslich subjektivem Gutdünken beschlossene Behebung des «Ärgernisses» erfolgt.

Weltliche Juristen rümpfen über das Kirchenrecht bisweilen die Nase. Sie vermissen insbesondere in der katholischen Kirche die für einen demokratischen Rechtsstaat wesentliche Gewaltenteilung. Was halten Sie von diesem Vorwurf?

Demel: Er ist berechtigt. Doch versteht sich die katholische Kirche ja gerade nicht als demokratische Gemeinschaft, sondern als Heilsgemeinschaft Gottes, und hat daher eine andere Gewaltenlehre. Sie geht von der einen heiligen Gewalt aus, die von Jesus Christus über die Apostel an die Bischöfe weitergegeben wird. Als heilig gilt sie deshalb, weil sie nicht von Menschen kommt, sondern von Gott geschaffen ist, und als eine, weil sie unteilbar ist, weshalb man zwar Funktionen der Gewalt voneinander unterscheiden, aber nicht trennen kann.

Papst Franziskus ist ein grosser Prediger der Barmherzigkeit. Steht diese über dem Recht?

Demel: Die Beziehung zwischen Recht und Barmherzigkeit ist keine der Über- und Unterordnung. Genauso wenig gibt es ein barmherziges oder unbarmherziges Recht. Sondern es gibt nur einen barmherzigen oder unbarmherzigem Umgang mit dem Recht. Denn Barmherzigkeit ist eine ethische Haltung, mit rechtlichen Vorgaben, Methoden und Instrumenten umzugehen. Daraus folgt, dass im Konfliktfall nicht der Buchstabe des Gesetzes, sondern die dahinterstehende theologische Wahrheit der göttlichen Liebe und seines Erbarmens verpflichtend ist, also sozusagen Gnade vor Recht gewährt wird. Das heisst aber eben gerade nicht, dass der Gnade immer der Vorrang vor der Anwendung des Rechts einzuräumen ist. Denn das wäre willkürlich und damit ungerecht.

Das Heil der Seelen müsse immer das oberste Gesetz bleiben, heisst es im letzten Canon des CIC. Was bedeutet das konkret? Gerade auch für die Rechtspraxis der Kirche?

Demel: Das Heil der Seelen ist nach unserem Glaubensverständnis die Gemeinschaft mit Gott. Deshalb ist in jeder Situation zu fragen, was diesem Ziel mehr dient. Ist es die strikte Einhaltung des Rechts? Muss ein bestimmtes Gesetz 1:1 angewendet werden? Oder muss ich es modifizieren oder greift es überhaupt nicht in dieser Situation, so dass ich in dieser Situation über das Gesetz hinausgehen muss?

Auf welchem Gebiet findet gerade die spannendste Rechtsentwicklung in der katholischen Kirche statt?

Demel: Bei der Neuverteilung der Kompetenzen zwischen Laien und Klerikern in den Pfarreien, Pfarrverbänden und den anderen Seelsorgeeinheiten der Kirche vor Ort. Wie viel Gestaltungs-, Finanz-, Personal-, Entscheidungsmacht kann Laien übertragen werden? Was muss unbedingt in Klerikerhand bleiben?

Sind Kirchenjuristen für das Jüngste Gericht besser gewappnet als die Rechtsunkundigen?

Demel: Na klar. Denn sie sind sich sicher, dass das, worum sie sich hier auf Erden bemühen, beim Jüngsten Gericht in seiner Höchstform gewährt wird: Recht und Barmherzigkeit. (kna)

*Sabine Demel ist auch Vizepräsidentin der Herbert-Haag-Stiftung mit Sitz in Luzern. Die Stiftung setzt sich für mehr Freiheit in der Kirche ein.

Sabine Demel | © KNA
27. Mai 2017 | 16:38
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