Sabine Zgraggen leitet die Spitalseelsorge der katholischen Kirche in Zürich.
Schweiz

Augenmass und Mitmenschlichkeit

In Spitälern wird um das Leben von erkrankten Menschen gekämpft. Dass Angehörige von den Erkrankten ferngehalten werden, gibt Sabine Zgraggen* zu denken.

Die Corona-Krise hat uns alle fest im Griff. Eben hat die SAMW, die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, klare Kriterien für die Triage Schwerkranker herausgegeben, so dass die knapper werdenden Intensivstation-Betten unter Druck gerecht vergeben werden können.

Ressourcen, Infrastruktur und Fachpersonal werden knapper. Nicht jeder kann in Zukunft vielleicht in den «Genuss» einer intensivmedizinischen Pflege kommen.

Arzt
Arzt

Es geht um den kranken Menschen schlechthin!

Bei all diesen wichtigen Dingen geht manchmal vergessen, dass es um den kranken Menschen, seine Biografie und das Menschsein schlechthin geht!

Alle Apparaturen und noch das beste Pflegepersonal, die engagiertesten Ärzte, ersetzen nicht und niemals die Familie, ersetzen nicht die persönliche Zuwendung und das empathische Miteinander!

In einem Beitrag des Schweizer Fernsehens vom 21. März wurde ein Blick auf eine Intensivstation in Genf gerichtet, wo offenbar eine Tochter namens Saskia wegen des Virus nicht zu ihrer in Lebensgefahr schwebenden Mutter kommen darf. Die Ärzte bemühen sich, per Handy-Konferenz für die Angehörige da zu sein.

Mit welchem Recht wird die Präsenz am Krankenbett verboten?

Danach sieht man, wie die Ärzte mit dem Handy ans Bett der Schwerkranken gehen und einen kurzen visuellen Eindruck vermitteln wollen. Es heisst «es geht ihr gut, sie leidet nicht».

Ich frage an dieser Stelle: Mit welchem Recht wird hier die Präsenz der Tochter am Krankenbett verboten, während fremde Menschen mit Schutzkleidung zu viert am Bett stehen dürfen?

Ist denn die fremde Hilfskraft, welche sich um eine wie auch immer geartete «Gesundheit» kümmert, mehr wert als die vertraute Angehörige, welche ihre Mutter ein Leben lang kennt und spürt, was im ganzheitlichen Sinne nötig wäre?

Spitalseelsorgerin am Krankenbett.
Spitalseelsorgerin am Krankenbett.

Es läuft etwas falsch.

An dieser Stelle läuft aus meiner Sicht etwas falsch, wenn es zu solchen massiven Massnahmen kommt! Es sind erwachsene Menschen, die jetzt sterben müssen, und es sind deren mündige Angehörige, welche in der Lage sind, die Situation abzuschätzen und ein minimales Risiko einer Ansteckung durchaus in Kauf nehmen. So wie es der Arzt und das Pflegepersonal ja auch täglich tun.

Von meinen Mitarbeitenden im Kanton Zürich erfahre ich, dass hier sehr sensibel darauf geschaut wird, dass bei Sterbenden ein Angehöriger dabei sein kann. Das scheint mir unbedingt wichtig. Unsere Seelsorgenden sind sehr engagiert und beteiligen sich an diesen ethisch hoch relevanten Fragen. Sie sind weiterhin integriert und stehen Angehörigen zur Verfügung.

Wie wollen wir die letzten Stunden gestalten?

Das eigentliche Thema und die eigentliche Panik in diesen Tagen liegen darin begründet, dass wir das Sterben und den Tod sonst verdrängen. Und jetzt darf nicht sein, was aber sein wird: Viele ältere Menschen sterben. Vereinzelt auch jüngere.

Doch wie wollen wir diese letzten Stunden gestalten? Und wer bestimmt dann? Was ist nun mit dem viel zitierten «mutmasslichen Willen» des Patienten?

* Sabine Zgraggen ist Dienststellenleiterin der Spital- und Klinikseelsorge der katholischen Kirche im Kanton Zürich. Auf der Seite gedankenfotografie.ch führt sie einen Blog, auf dem auch dieser Beitrag erschienen ist.


Sabine Zgraggen leitet die Spitalseelsorge der katholischen Kirche in Zürich. | © zVg
24. März 2020 | 11:41
Lesezeit: ca. 2 Min.
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