Arbeiten im Skriptorium
Schweiz

«An einer einzigen Seite wird manchmal einen Tag lang geschrieben»

Kappel am Albis ZH, 27.7.17 (kath.ch) Das reformierte Bildungshaus Kloster Kappel hat eine kalligrafische Abschrift der Zürcher Bibel aus dem Jahr 2007 lanciert. Mit dem Projekt wird an die klösterliche Tradition des Bibelabschreibens angeknüpft. Für die Kalligraphen ist es eine Hommage an die Langsamkeit.

Vera Rüttimann

Das Kloster Kappel liegt auf einem Hügel an exponierter Stelle. Anders als das Mutterkloster Hauterive liegt das ehemalige Zisterzienserkloster nicht in einer Flussschleife, sondern am Fuss der Albiskette, von wo man an klaren Tagen Eiger, Mönch und Jungfrau in der Ferne sehen kann. Die Klosteranlage aus dem 13. Jahrhundert mit ihren prächtigen Blumengärten und saftig grünen Wiesen wird als Ausflugsziel geschätzt.

Die Besucher, die durch einen von jahrhundertealten knorrigen Bäumen umsäumten Weg zur Klosterpforte gelangen, betreten einen Ort mit bewegter Geschichte: Die ehemalige Zisterzienser-Abtei wurde während der Reformation mehrmals verwüstet, geplündert und 1527 schliesslich aufgehoben. Heinrich Bullinger wirkte hier, Huldrych Zwingli fand in nächster Umgebung den Tod. Ein grosser Stein zehn Gehminuten vom Kloster entfernt erinnert daran.

Kloster Kappel | © Vera Rüttimann

Jahrhundertelang gebetet

Das Café des Gastrobetriebes im Kloster empfängt die Gäste zu Kaffee und Kuchen. Die Juli-Sonne brennt auf die Terrasse. Die reformierte Pfarrerin Elisabeth Wyss-Jenny, die seit sieben Jahren hier für das umfangreiche Kursprogramm verantwortlich zeichnet und zum theologischen Fachteam gehört, hat miterlebt, wie das Seminarhotel, das 1983 von der Evangelisch-Reformierte Landeskirche in den historischen Gebäuden eingerichtet wurde, nach und nach zu einem Ort der reformierten Spiritualität avancierte, das von einer breiten Schicht von Besuchern geschätzt werde.

«Das Wort gehört in die Mitte.»

Dieser Ort, sagt Wyss-Jenny, habe schon immer eine spezielle Ausstrahlung gehabt. Das Kloster Kappel am Albis wird von manchen als Kraftort bezeichnet. Speziell ist für sie dieser Ort nicht wegen der so genannten Boviseinheiten – einer esoterischen Masseinheit für Energiefelder. Vielmehr ist sie überzeugt, «dass Mauern, in denen jahrhundertlang gebetet wurde, ihre eigene Kraftausstrahlung haben.»

Elisabeth Wyss-Jenny, Pfarrerin und verantwortlich für das Skriptorium-Projekt | © Vera Rüttimann

Neues Testament bereits fertig

Noch spezieller macht für manchen dieser Ort auch ein besonders Projekt, das das Kloster eigens für die Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum lanciert hat. Wyss-Jenny sagt: «Das Wort gehört in die Mitte. Deshalb lancierte das reformierte Bildungshaus Kloster Kappel am Albis das kalligrafische Bibelschreibprojekt mit dem Titel «Kein Jota soll verloren gehen…», das die kalligrafische Abschrift der Zürcher Bibel aus dem Jahr 2007 anstrebt.» Zum Zürcher Reformationsjubiläum 2019 soll, so der Plan, die Niederschrift beendet sein.

Unzähligen Medienleuten und Besuchern des Klosters zeigte sie hier schon das Neue Testament in der Bibliothek des Klosters, das bereits fertig geschrieben und gebunden ist. Als Vorbild für das Schreibprojekt, erklärt sie, diene das Scriptorium, das jedes Kloster im Mittelalter unterhielt.

Schreiben als Hobby

Die Kalligraphen nehmen an allen Tagzeitgebeten im Kloster teil. So machen sich die beiden anwesenden Frauen um 11.50 Uhr auf, als die helle Glocke zum Mittaggebet in die imposant wirkende Klosterkirche ruft. Heute sind die Bänke mit den Teilnehmenden einer Singwoche gut gefüllt, dazu mit Jugendlichen, der «Campus Kappel» – eine Theologiewoche für Jugendliche – tagt gerade hier. Auch die Kalligrafinnen sind da. Sie kommen zum Gebet –  aus dem Scriptorium hat man einen direkten Zugang zum grossen Kirchenschiff. Nach dem Mittagessen verschwinden sie dann wieder in der Schreibstube. Wyss-Jenny ist fasziniert von der Brandbreite der Menschen, die hier in der Schreibstube arbeiten. Darunter seien ehemalige Drucker, Buchbinder und Grafiker, die für ihre Ausbildung die Kalligraphie lernen mussten. Dann seien da jedoch auch Bauern und Bäuerinnen, die diese Art von Schreiben als Hobby betreiben würden.

Das Wort erhält Leib und Seele

Unter den über vierzig Schreiberinnen und Schreibern zwischen 23 und 88 Jahren, die sich seit Februar 2012 der Abschrift der Bibel widmen, ist auch Elisabet Wiederkehr. Konzentriert sitzt die 75-jährige an diesem Morgen über ihrem Leuchttisch im Scriptorium. Langsam zieht sie mit einer Spitzfeder mit rotbrauner Tinte senkrechte Striche bei I und T, runden Formen bei O und U. Kein Zittern ist festzustellen. Die Zürcherin schreibt elegant und flüssig. Immer wieder taucht sie die Schreibfeder ins Tintenfass. Das Schreiben im Stil der «Humanistischen Kursive» nennt sie eine sehr sinnliche Arbeit. Das Wort erhält hier Leib und Seele, wird Fleisch und Blut.

«Etwas Höheres niederscheiben kann man nicht.»

Elisabet Wiederkehr war 2012 sofort fasziniert, als sie von diesem Bibel-Schreibprojekt vernahm. Ein Jahr später begann die engagierte Reformierte hier mit der kalligraphischen Niederschrift des Neuen Testamentes. Die frühere Grafikerin, die das kalligraphische Schreiben 1958 mit ihrem Beruf gelernt hat und ihr Wissen in Kursen weitergibt, musste daher nicht wie andere erst einen Kurs in der Schreibwerkstatt Hittnau bei Kalligraf Hansulrich Beer besuchen. Sie sagt über ihre Motivation, hier mitzuarbeiten: «Die Bibel abzuschreiben ist für mich das Grösste. Es steht ja bei Johannes: «Das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.» Etwas Höheres niederscheiben kann man nicht.»

Arbeitsplatz eines Kalligraphen | © Vera Rüttimann

Hommage an die Langsamkeit

Für die erfahrene Grafikerin ist dieses Bibelschreibprojekt «eine Hommage an die Langsamkeit.» Das sieht auch Pfarrerin Wyss-Jenny so, die sich nun die neuen fertig geschriebenen Seiten auf dem Leuchtpult ansieht. Journalisten und Besucher seien fasziniert von diesem Projekt, das mit seiner Langsamkeit das Gegenteil zur rasenden Zeit darstelle. Eine bewusste Langsamkeit als Lebensstil liege im Trend, Bewegungen wie «Slow Travel, Slow Food» (langsames Reisen, langsam Essen) zeigen dies. Deshalb treffe dieses Projekt bei vielen wohl einen Nerv. «Einmal besuchte ein Seminarteilnehmer unsere Schreibstube», erzählt sie. «Als er erfuhr, dass an einer einzigen Seite manchmal einen Tag lang geschrieben werde, sah er mich mit offenem Mund an.»

Schreiben als Meditation

Neben den Leuchtpulten liegt ein Tagebuch. Kalligraphen nützen es für persönliche Notizen. Einer schreibt: «Heute war viel Kampf und Schlacht». Gemeint ist damit wohl nicht nur der Kampf mit dem handgeschöpften Papier aus der Basler Papiermühle, sondern auch das Ringen mit den Texten im Alten Testament, wie Giuliano Künzli, der am Nachmittag zu den Schreibenden stösst, betont. Der hagere Mann mit dem verschmitzten Lachen war 65, als er die Kalligraphie vor einigen Jahren entdeckte. Feuer gefangen habe er, als er das Buch «Das Geheimnis des Kalligrafen» von Rafik Schami las. Im Schwarzwald besuchte er einen Kalligraphie-Kurs und freundete sich mit einem Bildhauer aus Regensburg an, mit dem er jeweils eine Woche schreibend im Kloster Kappel verbringt.

«Manche Bibeltexte berühren mich tief.»

Im Gegensatz zu seinem deutschen Freund sei er nicht gläubig, so Giuliano Künzli. Der frühere Krankenpfleger hatte nie einen persönlichen Bezug zur Bibel. Trotz der Freude an der kalligraphischen Arbeit sei er immer wieder erschüttert über die Brutalität in gewissen Sätzen. Er sagt: «Manche Bibeltexte berühren mich tief. Ich schüttle aber oftmals über einige Passagen im Alten Testament auch den Kopf. An manchen Stellen kommt die Sprache fast gewalttätig daher. Das irritiert mich immer wieder.» Heute gestaltet er eine freie kalligrafische Seite, die er zu Hause vorbereitet hat.

Zum Bibelschreib-Projekt sei er wegen des Schreibens gestossen. Die Schriftart der Humanistischen Kursive hat es ihm angetan. In sie könne er sich ganz vertiefen. Und da ist noch etwas anderes, das ihn so regelmässig in das Scriptorium zieht: «Das Schreiben hier ist für mich die absolute Meditation. Wenn ich schreibe, vergesse ich alles um mich herum. Ich spüre eine Art Flow, eine Ruhe und einen tiefen Frieden in mir.»

Video zum Projekt:

 

 

Arbeiten im Skriptorium | © Vera Rüttimann
27. Juli 2017 | 16:08
Lesezeit: ca. 5 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!