Wisst ihr nicht, dass ihr Tempel Gottes seid?

Dieter Bauer zu 1 Kor 3,9c-11.16-17

Die Auslegung der 2. Lesung für den 32. Sonntag im Jahreskreis sieht sich vor drei Probleme gestellt: Erstens findet an diesem Sonntag der «Tag der Völker» statt, zu dem den Gemeinden eine Biblische Reflexion zum Thema «Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen» (Mt 25,35c) zugegangen ist. Zweitens wird die eigentlich von der Leseordnung vorgesehene Hebräerbrieflesung unterbrochen durch eine aus dem 1. Korintherbrief, weil an diesem Sonntag der Weihetag der Lateranbasilika begangen wird. Und drittens ist der vorgeschlagene Lesungstext aus 1 Kor 3 derart verstümmelt, dass er ohne Betrachtung des Umfelds, in dem er steht, unverständlich bleiben muss. Die folgende Auslegung bezieht sich deshalb auf den grösseren Textzusammenhang 1 Kor 3,1­17.

Auf den Text zu

In Korinth gab es Streit ­ wie in den meisten heutigen christlichen Gemeinden auch, mal mehr und mal weniger. Auch die Probleme waren sehr ähnlich. In Korinth ging es zum Beispiel um eine Konkurrenz zwischen dem früheren Gemeindeleiter (und Gründer) Paulus und seinem Nachfolger Apollos. Auch das soll es heute noch geben. Ob die beiden Protagonisten an dieser Konkurrenz selbst «mitgestrickt» haben, oder ob es einfach auf Gemeindeebene Fraktionen und «Fangemeinden» gab, können wir dem 1. Korintherbrief nicht entnehmen. Wir haben ja nur die einseitige Sicht des Paulus. Er jedenfalls macht die Gemeinde selbst für diese Streitereien verantwortlich. Und er hält sie für ziemlich kindisch. Auf der einen Seite ­ so Paulus ­ bilden sich manche einiges ein auf ihre Geisterfülltheit, auf der anderen Seite benehmen sie sich wie die kleinen Kinder und werfen Paulus vor, dass er sie ­ im Gegensatz zu seinem Nachfolger Apollos ­ so behandelt habe: wie kleine Kinder. Paulus nimmt den Ball auf: «Vor euch, Brüder (und Schwestern), konnte ich aber nicht wie vor Geisterfüllten reden; ihr wart noch irdisch eingestellt, unmündige Kinder … Oder seid ihr nicht irdisch eingestellt, handelt ihr nicht sehr menschlich, wenn Eifersucht und Streit unter euch herrschen? Denn wenn einer sagt: Ich halte zu Paulus!, ein anderer: Ich zu Apollos!, seid ihr da nicht Menschen?» (3,1­4). Für die so angesprochenen Gemeindemitglieder musste das wie eine ziemliche Provokation wirken. Aber Paulus geht es ums Prinzip: Wo Personen in den Vordergrund treten ­ seien es die «Profilneurosen» (Ortkemper) einzelner Gemeindemitglieder, deren Namen wir nicht erfahren, seien es unterschiedliche Typen von Gemeindeleitern wie eben Paulus oder Apollos ­ und damit die Botschaft verdecken, da ist Einspruch gefordert: «Was ist denn Apollos? Und was ist Paulus? Ihr seid durch sie zum Glauben gekommen. Sie sind also Diener, jeder, wie der Herr es ihm gegeben hat: Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen, Gott aber liess wachsen … Denn wir sind Gottes Mitarbeiter» (3,5­9a).
Den Unsinn solch «irdischen» oder kindischen Verhaltens versucht Paulus an einem Bild aufzuzeigen, dem von der Gemeinde als «Pflanzung Gottes». Sowohl Paulus als auch Apollos sind «Diener» der Gemeinde. Wie wichtig das Paulus ist, sieht man am griechischen Urtext noch besser. Dort ist das Wort «Diener» ganz an den Anfang des Satzes gerückt: «Diener sind sie…». Sich an ihnen zu orientieren hiesse also zunächst einmal «dienen».
Ihr Dienst war «pflanzen» (Paulus) und ist «begiessen» (Apollos). Das eigentliche aber tut Gott, nämlich wachsen lassen. Das kann weder Paulus noch Apollos. Insofern sind sie «Gottes Mitarbeiter» ­ mehr nicht. Und die Gemeinde? Sie ist «Gottes Ackerfeld» (9b).

Mit dem Text unterwegs

Dann wechselt Paulus das Bild. Das ist die Stelle, an der unser Lesungstext einsetzt: «Ihr seid Gottes Bau» (9c). Vom Vegetationsbild schwenkt Paulus zur Architektur: «Der Gnade Gottes entsprechend, die mir geschenkt wurde, habe ich wie ein guter Baumeister den Grund gelegt; ein anderer baut darauf weiter. Aber jeder soll darauf achten, wie er weiterbaut. Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus» (10f.). Ob Paulus hier immer noch Apollos im Blick hat als den, der auf dem von ihm gelegten Fundament weitergebaut hat, oder ob er schon bei allgemeinen Warnungen angelangt ist, lässt sich nicht sicher entscheiden. Jedenfalls macht er auf die verantwortungsvolle Rolle dessen aufmerksam, der «weiterbaut». Und er nimmt sich selbst als den, der das Fundament gelegt hat, stark zurück: Das Fundament ist nämlich längst gelegt: Jesus Christus. Damit kommt die Tätigkeit des Gemeindeleiters in den Blick und die Art und Weise, wie er diese Aufgabe ausfüllt: «Ob aber jemand auf dem Grund mit Gold, Silber, kostbaren Steinen, mit Holz, Heu oder Stroh weiterbaut: das Werk eines jeden wird offenbar werden; jener Tag wird es sichtbar machen, weil es im Feuer offenbart wird. Das Feuer wird prüfen, was das Werk eines jeden taugt» (12f.). Paulus bringt das Bild der «Feuerprobe» ins Spiel, anders sind die seltsamen Baumaterialien nicht zu erklären. Manche denken dabei sofort an das ewige Gericht, das Feuer der Hölle oder das Fegefeuer, in das wohl auch Gemeindeleiter müssen. Solche Gedanken sind Paulus allerdings noch fremd, sie kommen erst durch die Auslegungen eines Clemens von Alexandrien (+215/16) oder Origenes (+ca. 253/54) ins Spiel. Paulus aber geht es um die Rettung, auch des unfähigen Gemeindeleiters: «Hält das stand, was er aufgebaut hat, so empfängt er Lohn. Brennt es nieder, dann muss er den Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch» (14f.), und zitiert damit wohl aus den Propheten: «Ihr wart wie ein Holzscheit, das man aus dem Feuer herausholt» (Amos 4,11).
Noch einmal wechselt Paulus den Blickwinkel und spricht die Gemeinde selber an. Doch nicht eine Strafpredigt oder Scheltrede folgt nun, kein erhobener Zeigefinger, sondern eine ungeheure Ermächtigung. Er weist hin auf den unendlichen Wert der Gemeinde: «Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?» (1 Kor 3,16)
Dieses «Bild von der Gemeinde als dem Tempel Gottes ist nicht abgehobene Ekklesiologie, sondern polemisch in die spannungsgeladene Situation der Korinthergemeinde hineingesprochen» (Ortkemper). Immer wieder kann man sich nur wundern, wie Paulus in all den Konflikten, die ihm selbst mächtig an die Nieren gegangen sind und die teilweise auch unter der Gürtellinie ihm gegenüber stattgefunden haben ­ das lässt sich jedenfalls unschwer der im 2. Korintherbrief enthaltenen Korrespondenz entnehmen ­ nicht den Blick für den unendlichen Wert dieser Gemeinde als geheiligten Wohnort Gottes und seines Geistes verliert. Fast beschwörend («Wisst Ihr denn nicht…?») macht er die Gemeinde auf ihre Heiligkeit aufmerksam. Er will sagen: Ihr seid so unendlich wertvoll! Warum geht ihr denn dann so miteinander um? Und er warnt vor den Folgen solchen Verhaltens: «Wer den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben.» Das will heissen: Ihr schaufelt euch euer eigenes Grab. «Denn Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr» (3,17).

Über den Text hinaus

Bei allen Konflikten, bei allen Streitigkeiten in einer Gemeinde nicht den Blick für das Eigentliche zu verlieren, für den Wert jedes einzelnen Mitglieds, und scheint es noch so unbedeutend oder feindselig zu sein, ist ungeheuer schwer. Da sind wir eben doch «auch nur Menschen» und oft ­ so würde Paulus sagen ­ «wie die kleinen Kinder». Das «Heilige» erscheint oft sehr verborgen. Doch dafür wieder einen Blick zu bekommen, könnte dieser Paulustext einladen.

Der Autor: Dieter Bauer leitet die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks.

Literatur: Franz-Josef Ortkemper, 1. Korintherbrief, (Stuttgarter Kleiner Kommentar, NT 7), Stuttgart 1993; Hans-Josef Klauck, 1. Korintherbrief, (Neue Echter Bibel, NT 7), Würzburg 1987.


Er-lesen
Paulus gebraucht verschiedene Bilder um zu zeigen, was ihm an der Gemeinde wichtig ist: eines aus dem vegetativen Bereich (Ackerfeld), eines aus dem technischen (Bauwerk). Die Teilnehmer/Teilnehmerinnen sich in Kleingruppen auf ein (eigenes) Bild von Gemeinde einigen lassen und dieses den anderen vorstellen.

Er-hellen
1 Kor 3,5­9b und 9c­17 miteinander lesen unter dem Gesichtspunkt: Was bringen diese beiden Bilder Spezifisches für Gemeinde zum Vorschein?

Er-leben
Die Teilnehmer/Teilnehmerinnen formulieren jede/r für sich auf einem Blatt Papier: «Pflanzung/Tempel Gottes sein, das heisst für mich…». Anschliessende Gesprächsrunde darüber, was diese Bilder für die Zukunft unserer Gemeinde bedeuten könnten.

BPA und SKZ
2. November 2003 | 00:00