Wirkmächtiges Wort

Hans A. Rapp zu Hebr 4,12-13

Auf den Text hin
Es gibt im babylonischen Talmud eine schöne Geschichte über den Tagesablauf Gottes. Der Heilige, gelobt sei er, lernt in den ersten drei Stunden seines Tages die Tora. Im zweiten Viertel des Tages setzt er sich auf seinen Richtstuhl und richtet die Welt. Wenn er aber sieht, dass er die Welt aufgrund ihrer Vergehen vernichten müsste, steht er auf und setzt sich auf den Stuhl der Barmherzigkeit. Im dritten Teil ernährt er alle seine Geschöpfe und im vierten spielt er mit Leviathan, dem Chaosungeheuer (Avoda Zara 3b). Die späteren jüdischen Mystiker bringen diese Gedanken in den esoterischen Lehren der Attribute Gottes, der Sephirot, zum Ausdruck: Dîn, Gericht, und Chessed, Gnade, sind zwei Attribute Gottes, die sich innerhalb des komplizierten Systems des innergöttlichen Lebens die Waage halten. Gerechtigkeit und Liebe gehören beide zu Gott und lassen sich nicht trennen. Innerhalb der christlichen Konfessionen haben wir in den letzten Jahrzehnten mit Recht die Seite der göttlichen Liebe wiederentdeckt. Viele Menschen tun sich schwer mit dem Gedanken, dass die Wirklichkeit Gottes auch andere Seiten an sich hat. Hebr 4,12­13 ist eine Stelle im Neuen Testament, die den Hörerinnen und Hörern die Möglichkeit des göttlichen Gerichts vor Augen führt.

Mit dem Text unterwegs
«Denn lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert.» Das Wort Gottes durchdringt das Geschöpf bis ins innerste Wesen. Das Wort kann schokkieren und Abscheu erregen. Scheint hier ein überwundenes «alttestamentliches» Gottesbild auf? Um die beiden Verse im Zusammenhang des Hebräerbriefes angemessen zu begreifen, empfiehlt sich eine kurze Orientierung.
Die beiden Verse bilden den Abschluss des ersten Teils des Hebräerbriefes, dessen erste Sätze bereits auf die Geschichte und Gegenwart des Wortes verwiesen haben. Die Schrift schlägt einen Bogen der Geschichte dieses göttlichen Wortes von der Zeit der Väter bis zur Gegenwart, die als eine Endzeit begriffen wird und in der Gott durch seinen Sohn zu den Menschen gesprochen hat (Hebr 1,1f.). Der Sohn trägt das All durch die Äusserung seiner Macht (rhema dynameos autou: vgl. auch Hebr 6,5). In 2,2 ist vom «Wort» als einer rechtskräftigen Weisung die Rede, die von Engeln verkündet wurde und die durch die Wirklichkeit Christi überboten wird (2,3). Um das Wort Gottes an Israel in der Wüste dreht sich auch der lange Abschnitt, der sich eng an Ps 95,7­11 hält. Hier geht es um das Wort als Freudenbotschaft (Hebr 4,2). Grundsatzwort, Weisung, Freudenbotschaft: all diese Elemente sind im «Logos» enthalten, das der Hebräerbrief in der heutigen Lesung mit einem scharfen, zweischneidigen, durchdringenden Schwert vergleicht. Das Wort ist vielgestaltig. Es ist etwas, das die Welt zusammenhält, dem Menschen den Weg weist und ihn mit Hoffnung füllt.
Auf diesem Hintergrund ändert sich für mich der erste Eindruck von Hebr 4,12f.: es geht um die Botschaft Gottes an die Menschen. Diese Botschaft ist in sich mächtig und kraftvoll. Sie lässt sich nicht aufhalten. Dieser Sachverhalt ist im Jesajabuch sehr schön ausgedrückt.

«Es kehrt nicht leer zu mir zurück,
sondern bewirkt, was ich will,
und erreicht all das,
wozu ich es ausgesandt habe» (Jes 55,11).
Das Wort ist wirkungsvoll und alles durchdringend. Die Botschaft ist leidenschaftlich. Gegenüber diesem Wort gibt es keine Indifferenz.
Diese Theologie ist ganz im Ersten Testament begründet. Es ist das Wort Gottes, dass die Schöpfung aus dem anfänglichen Tohuwabohu erschafft (vgl. Gen 1,3ff.), es begegnet in den Verheissungen an die Patriarchen (vgl. Gen 12,1), in der Weisung Gottes auf dem Sinai (vgl. Ex 20,1). Schöpfung und Weisungsgabe hängen für das jüdische Verständnis eng zusammen.
Es ist kein Zufall, dass Gott die Welt durch sein Wort erschafft, in dem auch die Heilige Schrift enthalten ist. Die Tora, die fünf Bücher Mose, als Worte Gottes, stellt nach jüdischem Verständnis den Bauplan der Welt dar. Beides, Schöpfung und Tora, ist das Produkt der Liebe Gottes. So findet es sich bei einem jüdischen Gelehrten, der etwa zweieinhalb Jahrhunderte vor dem Verfasser des Hebräerbriefes geschrieben hat:

Durch Gottes Wort entstanden seine Werke,
seine Lehre ist ein Ausfluss seiner Liebe
(Sir 42,15).
Das Wort begegnet als Gerichtswort in der prophetischen Literatur. Amos, der früheste Prophet, von dem ein eigenes Buch erhalten ist, beschreibt diese Wirkmächtigkeit, wenn er davon spricht, dass Gott vom Zion her brüllt (Am 1,2). Das Wort Gottes geht aus, um Rechenschaft von Israel zu fordern (Am 3,1f.) oder um Totenklage über das Volk zu halten (Am 5,1). Es ist aber auch etwas, das immer Bestand hat und zuverlässig ist (vgl. Jes 40,8). Auf das Wort kann sich der Mensch verlassen.
Diese Vorstellungen stehen auch hinter der Sonntagslesung von Hebr 4,12­13. Die Metapher des Schwertes, das den Körper durchdringt, kann Assoziationen von Gewalt und Krieg wecken. Das ist aber nur ein Teil der Wirklichkeit. Der andere Teil ist die Dynamik, die ihm innewohnt und der nichts Widerstand zu leisten vermag. Das Wort, von dem in Hebr 4,12­13 die Rede ist, enthält die beiden Seiten Gottes, von denen die jüdische Erzählung spricht, in sich: es ist in gleicher Weise Liebe und Leidenschaft Gottes für die Menschen. Es hängt von den Menschen ab, wie sie es aufnehmen.

Über den Text hinaus
Hebr 4,12­13 ist einer derjenigen Texte, die den unbedingten Anspruch der göttlichen Wirklichkeit betonen, aber auch dessen durchdringende Kraft. Sich der Kraft und Schärfe des Anspruchs Gottes bewusst zu werden, ist ebenso wichtig wie das Bewusstsein der Geborgenheit in Gott. Geborgenheit in Gott finden Menschen, die sich ganz auf ihn einlassen. Für Christen und Christinnen ist es entscheidend, sich die Mächtigkeit des Wortes vor Augen zu halten. Wenn das prophetische Wort analytisch scharf und auch destruktiv sein kann, so besiegelt es dadurch nur etwas, was ohnehin keinen Bestand hat: die Unmenschlichkeit des Menschen. In der Schärfe des Wortes liegt allerdings nicht nur Angst, sondern Hoffnung: wer dem Wirken dieses durchdringenden, scharfen Wortes vertraut, kann auf es bauen und voller Hoffnung leben.

Der Autor: Hans A. Rapp, im Fach Judaistik promovierter Theologe, ist Bildungsleiter im Haus Gutenberg in Balzers (Fürstentum Liechtenstein).

Literatur: Franz Laub, Hebräerbrief, (Stuttgarter kleiner Kommentar. Neues Testament 14), Stuttgart 1988.


Er-lesen
Lesen Sie Hebr 1,1­4,13 durch und suchen Sie die Stellen, die vom «Wort» bzw. vom Sprechen Gottes oder des Sohnes sprechen. Streichen Sie diese Stellen an und sprechen Sie darüber, was jeweils gemeint ist.

Er-hellen
Das Wort Gottes ist durchdringend wie ein zweischneidiges Schwert. Finden Sie andere Metaphern für das Gemeinte und notieren Sie sie auf ein Plakat.

Er-leben
Formulieren Sie aufgrund Ihrer bisherigen Überlegungen Fürbitten und Gebete für den Gottesdienst.

BPA und SKZ
5. Oktober 2003 | 00:00