Wir sollten Muslime gleichberechtigt mitwirken lassen

Gastkommentar von Reinhard Schulze

Ohne eine Europäisierung des Islam könne es in Europa keinen Frieden geben, meinte Bassam Tibi jüngst (NZZ, 24.7.2020). Er verlangt, die «Werte», auf denen die «kulturelle Moderne» fusse, als «Leitkultur» zu begreifen. Als «Werte» gelten ihm Rationalismus, Pluralismus, Säkularismus und Toleranz, welche die Menschen als ein autonomes Subjekt definierten. Diese stünden allerdings im «diametralen Gegensatz zum islamischen Verständnis vom Menschen als Geschöpf Gottes».

So richtig es ist, republikanische Tugenden für das Zusammenleben in einer modernen Polis einzuklagen, sollten sie angesichts der aktuellen Krise durch Tugenden wie Rücksicht, Mitgefühl, Verantwortung und Nachhaltigkeit konkretisiert werden. Denn dort, wo diese Tugenden bei der Bewältigung der Corona-Krise fehlen, tun sich in der Gesellschaft tiefe Gräben auf, die nichts mit dem behaupteten Islam-Europa-Konflikt zu tun haben. Eine rechtslibertäre Einstellung, wie wir sie aus der amerikanischen Tea-Party-Bewegung oder dem Limited-Government-Konservativismus kennen, greift um sich. Sie verweigert die Solidarität mit der Gesellschaft und ignoriert genau die Tugenden, die für Bassam Tibi eine Leitkultur konstituieren. Die Wertigkeit dieser Tugenden für eine soziale Friedensordnung ist nicht zu bestreiten. Doch bilden sie keine «Kultur», sondern spiegeln das allgemeine Bedürfnis, das sittliche Gute zu erreichen. Brauchen diese Tugenden eine kulturelle Rechtfertigung? Ist diese Tugendordnung tatsächlich europäisch, niemals aber islamisch?

Tatsächlich rechtfertigen viele Muslime diese Tugenden ebenso, wie Atheisten, Christen oder Agnostiker. Sie tun dies nicht, um Europäer zu sein, sondern aus dem allgemeinen Bedürfnis, das sittliche Gute zu gestalten. Sie sehen im Islam eine Ressource. Ihr Islam übersetzt, wie Wolfgang van der Daele es formulierte, Wirklichkeiten in Möglichkeiten, Handlungsgrenzen in Handlungsoptionen, Substanzen und Wesenheiten in Funktionen, absolute Werte in Präferenzen. Dem steht ein fundamentalisierter Islam gegenüber, der auf einer mit Tabus versehenen moralischen Forderung an die Umwelt und auf spezifische Erkenntnisweisen, die nicht objektivierbar sind, beruht. Tibi bestreitet nun die Legitimität einer islamischen Herleitung. Dazu zwingt er den Islam in ein fundamentalisierendes Gegennarrativ: Der Koran führe die Auswanderung (hidjra) als Pflicht zur Verbreitung des Islam an, «die Muslime» müssten die Welt in ein «Haus des Islam» und in den nichtislamischen Rest, zu dem Europa gehört, spalten, der Weltfriede sei nur unter islamischer Dominanz möglich. Allerdings wird im Koran an keiner Stelle die Pflicht zur Auswanderung genannt.

Damit kann auch der Islam den Anspruch erheben, die republikanische Tugendordnung und ihre Ableitungen zu rechtfertigen. Statt den islamischen Traditionsgebrauch zu delegitimieren, wäre es daher angebracht, die Musliminnen und Muslime bei einer Neubegründung der republikanischen Tugendordnung gleichberechtigt mitwirken zu lassen. Die republikanischen Tugenden sind für einen Grossteil der Muslime gerade nach den Erfahrungen des Arabischen Frühlings so selbstverständlich geworden. Dann wäre der Weg frei, die eigentliche Krise der Gesellschaft in den Blick zu nehmen und gemeinsam der sozialen Desintegration entgegenzuwirken.

Reinhard Schulze ist emeritierter Islamwissenschafter und Direktor des Forums Islam und Naher Osten an der Universität Bern.

Neue Zürcher Zeitung
30. Juli 2020 | 07:57