Wenn historische Schätze für neue Bauten zerstört werden: Schützt der Aargau sein römisches Erbe zu wenig?

Muss man aus Respekt vor einer einst grossen Leistung römische Kulturzeugnisse erhalten, wenn sie bei Bauarbeiten zu Tage treten? Oder darf man abwägen, von Fall zu Fall entscheiden? In Hausen wurde kürzlich ein Teil einer römischen Wasserleitung zu Gunsten eines Bauvorhabens zerstört. Das ruft die Politik auf den Plan.

Wie sorgfältig oder unsorgfältig geht der Kanton Aargau mit seinen Zeugnissen aus römischer Zeit um, die bei Bauarbeiten insbesondere in Windisch und Baden immer wieder zu Tage treten? Am 23. September berichtete die AZ über ein bei Bauarbeiten zu Tage gekommenes, rund 40 Meter langes Teilstück einer Wasserleitung aus römischer Zeit.

Anders als eine zweite Leitung, die noch heute Wasser führt und im Untergeschoss der Sanavita-Alterssiedlung in Windisch zu besichtigen ist, befand sich diese Leitung im Originalzustand «und ist somit archäologisch und historisch besonders wertvoll», schrieb die AZ.

Heute müsste man schreiben, «war besonders wertvoll». Denn sie besteht nicht mehr. Weil sie auf einer der letzten Baulandparzellen in Hausen ausgegraben wurde und dort ein Wohn- und Atelierhaus mit 47 Betreuungsplätzen für Menschen mit Behinderung hinkommt, führte der Neubau mit seiner Tiefgarage zum Verlust des antiken Bauwerks auf über 40 Metern.

Um diesen Abschnitt der antiken Wasserleitung vor der Zerstörung zu dokumentieren und Gesteins- und Mörtelproben zu entnehmen, führte die Kantonsarchäologie eine Grabung und noch eine öffentliche Grabungsführung durch. Bald danach gingen die Bauarbeiten los. Der Brugger Grossrat Martin Brügger fotografierte die Situation, als die Bagger auffuhren.

Kritik auch von ausserhalb des Kantons Aargau

Mitte Oktober kritisierte der Zürcher «Tages-Anzeiger» im Zusammenhang mit bedeutenden römischen Funden in Baden: «Die Stadt und der Kanton schauen die Entdeckungen als Problem an, statt sich darüber zu freuen.» Tage später doppelte die «NZZ am Sonntag» nach und warf dem Aargau vor, sein römisches Erbe zu zerstückeln.

Karte: Archäologische Funde bei Bauvorhaben im Aargau

Er finde es «einfach herzzerreissend, wie man bei uns mit 2000 Jahre alten Kulturgütern von höchster Qualität umgeht», wurde Martin Killias, Präsident des Schweizer Heimatschutzes, zitiert. Und der in der Kantonsarchäologie für die Region Vindonissa zuständige Jürgen Trumm wurde mit den Worten zitiert: «Als Wissenschafter ist man sehr traurig, wenn so etwas passiert.»

Grossräte wollen Antworten von der Regierung

Sie wollen von der Regierung wissen, wie das Bekenntnis des Kantons Aargau zu seinem kulturhistorischen Erbe laute. Und wie sie Aussagen entkräften könne, wonach historische Funde im Baugebiet nur «Ärger» statt Freude bereiten. Aber auch, «warum solch bedeutende Meisterwerke antiker Baukunst nicht rechtzeitig unter Schutz gestellt werden»? Aargauer Zeitung Newsletter Täglich kompakt informiert – mit unserem kostenlosen Newsletter in Ihrer Mailbox. Bitte beachten Sie unsere Datenschutzerklärung . Mit dem Klick auf «Anmelden» akzeptieren Sie diese.

Das sagt eine Hüterin der Zeugnisse aus römischer Zeit

Das für die Kantonsarchäologie zuständige Departement Bildung Kultur und Sport (BKS) verweist darauf, dass die Regierung den Vorstoss beantworten werde. Der Antwort wolle man nicht vorgreifen und könne sich dazu jetzt nicht äussern. Was sagt eine ausgewiesene Fachfrau zu dieser Debatte? Sabine Deschler-Erb ist Co-Präsidentin des Vereins «Gesellschaft Pro Vindonissa» und Professorin an der Integrativen Prähistorischen und Naturwissenschaftlichen Archäologie der Universität Basel, also eine Hüterin der Zeugnisse aus der römischen Zeit.

Als Archäologin sei sie natürlich dafür, «so viel wie möglich zu konservieren», sagt sie: «Denn wenn etwas weg ist, ist es weg.» Aber selbst als Archäologin sehe sie, dass man nicht alles bewahren könne: «Wenn es um Befunde in sehr dicht besiedelten Regionen geht, kann man nicht alles retten. Da muss man von Fall zu Fall entscheiden, ob es sich um einen einmaligen, erhaltenswerten Befund handelt oder ob das Aufgefundene stark beschädigt ist und sich eine Konservierung weniger lohnt. Je nachdem muss man manchmal Kompromisse machen.»

Beim inzwischen verschwundenen Teilstück der Wasserleitung in Hausen wäre es laut Deschler-Erb vielleicht hilfreich gewesen, «dass meine Kolleginnen und Kollegen von der Kantonsarchäologie noch mehr einbezogen worden wären». Insgesamt verteidigt sie aber den Aargau und seine Kantonsarchäologie. Er schaue besser zu seinem Erbe als manch anderer Kanton.about:blank

Zudem finanziere er an der Uni Basel eine eigene Vindonissa-Professur: «Das zeigt, dass der Aargau sich der Verantwortung für sein römisches Erbe bewusst ist, und dieser nachkommt.» Als Aussenstehende könne sie sagen, dass der Aargau hier einiges investiert und eine sehr aktive und gut funktionierende Kantonsarchäologie habe. Sie hofft, dass nicht ausgerechnet diese ins Spar-Visier gerät, wenn der Kanton wegen Corona den Gürtel enger schnallen muss.

Baden: Was soll mit römischem Bad geschehen?

Die Kantonsarchäologie hat in Baden das Freibad teilweise freigelegt, das einst die Römer erbauten. Es wurde bis ins 19. Jahrhundert genutzt. Es folgen archäologische Untersuchungen und weitere Evaluationen für Leitungsarbeiten.

Nun fordert Heimatschutzpräsident Martin Killias nach mehreren sensationellen Funden bei den Bauarbeiten auf dem Kurplatz beim Bund einen Baustopp. Baden und die Kantonsarchäologie hätten klargemacht, dass sie sich mit der Erforschung der Funde und der Dokumentation begnügten, so Killias.

Windisch: Römische Offiziersküche auf dem Legionärspfad

Manchmal kann man eine Kostbarkeit bewahren, indem sie trotz eines geplanten modernen Bauwerks erhalten wird. Das ist bei dieser römischen Offiziersküche der Fall. Da stand um die Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr. ein grosses Haus, das wohl ein ranghoher Offizier mit seiner Familie bewohnte. Besonders spektakulär sei seine Küche, schreibt die Kantonsarchäologie. Untersuchungen haben gezeigt, dass hier Delikatessen wie Mittelmeermakrelen, Austern, Singvögel und Wild zubereitet wurden.

Zofingen: Das Badehaus wurde wieder zugedeckt

Bei Bauarbeiten beim Platz unterhalb des Pulverturms in Zofingen kamen 2018 die Grundmauern des nicht zur Römerzeit, aber 1545 errichteten Oberen Badehauses zum Vorschein. Nach intensiven Abklärungen, öffentlicher Diskussion und der Stellungnahme des Einwohnerrats wurde der Fund wieder zugeschüttet. Zur Debatte gestanden hatte auch, ihn mit Panzerglas sichtbar zu halten. Heute sind die Grundmauern des ehemaligen Badehauses und der ehemaligen Stadtmauer mit Intarsien in der Pflästerung angedeutet.

Windisch: Ausgrabung erweiterte das Wissen um das Legionärslager

Vor knapp einem Jahr teilte die Kantonsarchäologie mit, dass bei Ausgrabungen im Areal der Klinik Königsfelden in Windisch die Befestigung eines frührömischen Militärlagers und die Reste eines dazugehörigen Lagertors entdeckt worden sind. Die Grabungen im Nordteil des Legionslagers wurden durch den Neubau der Psychiatrischen Dienste ausgelöst. Auf über 1800 Quadratmetern wurden Spuren der Antike dokumentiert. Das Areal der Baugrube für das Neubauprojekt war bereits 1935»ˆ’1939 grossflächig ausgegraben worden, aber zum Glück für die heutigen Archäologen gruben sie damals nicht so tief wie heute, sodass jetzt mehr entdeckt wurde.

Aargauer Zeitung
13. November 2020 | 11:00