Sterben in der Schweiz – Ein Überblick zu gegenwärtigen Entwicklungen

Medienmitteilung

Wir alle sterben – aber wie? Wie nie zuvor können wir heute das Lebensende planen und mitgestalten. Und doch sterben die meisten Menschen nicht dort, wo sie möchten. Das Buch «Das Lebensende in der Schweiz» reflektiert das bestehende Wissen zum Sterben in der Schweiz. Fazit: Palliative Care ist zu stärken, aber das Lebensende bleibt nur begrenzt plan- und kontrollierbar.

Die steigende Lebenserwartung und die Fortschritte der Medizin verschieben das Sterben ins hohe Alter. Der plötzliche Tod ist nicht verschwunden, doch viele Menschen sind heute mit einer Phase des Lebensendes konfrontiert, die mit Krankheit und Gebrechlichkeit beginnt und erst Jahre später mit dem Tod endet. Das Lebensende stellt den Einzelnen vor drängende Fragen: Wie lange und wie will ich noch leben, wie will ich sterben, welche Entscheidungen sollen getroffen werden, und, nicht zuletzt, wo will ich sterben?

Zugleich steht das Lebensende im Fokus medizinischer, pflegerischer, juristischer und soziologischer Überlegungen und Praktiken: Wann ist jemand noch urteilsfähig? Welche Rechte hat der Einzelne? Wer entscheidet über den Abbruch lebenserhaltender Massnahmen? Lassen sich Entscheidungen rechtzeitig planen? Was hiesse dann rechtzeitig?

Bestandsaufnahme aus unterschiedlichen Perspektiven

Zum Abschluss des Nationalen Forschungsprogramms NFP 67 «Lebensende» erscheint im Schwabe-Verlag ein Buch unter dem Titel «Das Lebensende in der Schweiz. Individuelle und gesellschaftliche Perspektiven». Es gibt eine umfassende Bestandsaufnahme des Wissens zum hiesigen Sterben mit Blick auch auf andere Länder. Zum anderen reflektiert es das Wissen vor dem Hintergrund der entscheidenden Frage, wie den Menschen ein würdevolles Sterben zu ermöglichen sei.

Die vier Autorinnen und Autoren schöpfen aus einem grossen Erfahrungs- und Wissensfundus: Markus Zimmermann (Theologe, Universität Fribourg), Stefan Felder (Ökonom, Uni Basel), Ursula Streckeisen (Soziologin, PH Bern) und Brigitte Tag (Juristin, Uni Zürich) waren von 2012 bis 2018 Mitglieder der Leitungsgruppe des NFP 67 «Lebensende». Die Leitungsgruppe hat vor einem Jahr eine «Synthese» der Ergebnisse aus den 33 Forschungsprojekten des Programms publiziert. Das neue Buch geht darüber hinaus, indem es nicht nur systematisch die Ergebnisse aus dem NFP 67, sondern auch die seither erschienene internationale Literatur berücksichtigt. Vertieft werden insbesondere Kenntnisse über Sterbeverläufe, Lebensende-Entscheidungen, die Versorgung am Lebensende, Aspekte der Ökonomie, des Rechts sowie der Sterbeideale.

Vorstellungen vom «guten Sterben»
Geht es um Sterbeideale, stehen sich zwei Vorstellungen diametral gegenüber: Für die einen ist das Sterben mit einer spirituellen Erfahrung verbunden; die Sterbephase wird als ein Reifungsprozess und Übergang verstanden, der mit Kontrollverlust und Schmerzen verbunden sein kann. Für andere steht die individuelle Unabhängigkeit im Zentrum: der Tod soll möglichst komplikationsfrei und zu einem selbst bestimmten Zeitpunkt eintreten. «Um gesellschaftliche Konflikte um die Gestaltung des Lebensendes besser verstehen und bewältigen zu können, ist es wichtig, ein Bewusstsein für unterschiedliche Sterbeideale zu entwickeln», sagt Markus Zimmermann. «Wir haben es mit einem Pluralismus von Vorstellungen und Werten zu tun, der verständlich macht, warum selbst politische Lebensende-Entscheidungen nicht selten heftig umstritten sind.»

Grosse Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung

Das NFP 67 hat gezeigt, dass die Bereitschaft der Bevölkerung gross ist, für die hohen Kosten am Lebensende aufzukommen – in der Westschweiz noch höher als in der Deutschschweiz. Dennoch muss die Wirtschaftlichkeit von Massnahmen offen diskutiert werden. Wie das NFP 67 belegte, verursachen ältere Sterbende während der letzten Lebensphase geringere Kosten als jüngere. Die Gründe dafür sind nicht klar und müssten vertieft untersucht werden: Wird bei älteren Sterbenden auf Massnahmen verzichtet? Oder wird bei jüngeren Menschen am Lebensende zuviel und zu teuer behandelt?

Orte des Lebens und Sterbens
Vier Fünftel der Menschen in der Schweiz sterben in Spitälern und Pflegeheimen; darunter sind deutlich mehr Frauen als Männer. Ihre Bedürfnisse werden nicht immer berücksichtigt: Viele Spitäler sind derzeit nicht dafür eingerichtet, Menschen im Sterben zu begleiten oder angemessen zu versorgen. Zudem verstehen sich Pflegeheime oft als Orte des Lebens.

«Diese Institutionen sollten das Lebensende stärker einbeziehen. Es ist nötig, die Grundhaltung dem Sterben gegenüber, aber auch Strukturen und Prozesse anzupassen», sagt Markus Zimmermann. «Der Tod zu Hause, den viele Sterbende sich wünschen, ist nicht immer die bessere Alternative. Oft führt er zu einer Überforderung der Angehörigen.» Der Wunsch, zu Hause zu sterben, drücke die Sehnsucht nach einem Ort der Vertrautheit und Geborgenheit aus. Diese wird nicht erfüllt, wenn das Wohnzimmer zu einem Sterbezimmer umgebaut werde, in welchem medizinische Apparate stehen und Betreuende ein- und ausgehen.

Förderung von Palliative Care
Das rechtzeitige und offene Gespräch der betreuenden Fachleute mit den Sterbenden und ihren Angehörigen ist wünschenswert, findet jedoch nicht immer statt. Palliative Care hat das grosse Potenzial, die Situation zu verbessern: In diesem umfassenden Verständnis von Begleitung und Versorgung steht die Linderung von Leiden, die Unterstützung der bestmöglichen Lebensqualität, die Berücksichtigung sozialer und spiritueller Bedürfnisse, der Einbezug der Angehörigen sowie eine gute Vernetzung bestehender Dienste im Zentrum. «Eine Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die im klinischen Alltag praktizierte Einteilung in kurative und palliative Patientinnen und Patienten aufgegeben wird: Rechtzeitig einsetzende Palliative Care sollte zum selbstverständlichen Teil der Pflege und Begleitung während des letzten Lebensabschnitts werden», sagt Markus Zimmermann.

Pionierin Ostschweiz
Die Ostschweiz ist in diesem Punkt Pionierin: Hier wurden bereits Erfahrungen mit der Etablierung einer sogenannten Community-based Palliative Care gesammelt. Es hat sich gezeigt, dass der Aufbau einer «Kultur des helfenden Miteinanders» in Wohnquartieren geplant und schrittweise durchgeführt werden muss, wenn diese gelingen soll.

Markus Zimmermann betont indes, dass bei aller Umsicht und Planung des Lebensendes der Sterbeverlauf ungewiss bleibe und nicht selten unvorhergesehene Fragen aufwerfe. «Der letzte Abschnitt im Leben lässt sich nur bedingt planen. Damit müssen wir leben.»

Markus Zimmermann, Stefan Felder, Ursula Streckeisen, Brigitte Tag: Das Lebensende in der Schweiz. Individuelle und gesellschaftliche Perspektiven. Schwabe-Verlag, Basel 2019, 228 S.

Synthesebericht NFP 67: Lebensende

Schweizerischer Nationalfonds SNF
7. Februar 2019 | 09:22