Stellungnahme des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz

Medienmitteilung

Stellungnahme zur Frage sexualisierter Übergriffe gegen erwachsene Schutzbefohlene aus Anlass der Berichterstattung über den Fall «Ellen Adler».

Der Beitrag, der am 3. Mai 2021 in der Sächsischen Zeitung unter der Überschrift «Der Novize und die Sächsin» und in der Badischen Zeitung mit dem Titel «Kampfzone Kirchenrecht» erschienen ist, hat anschaulich gemacht, dass sexualisierte Gewalt im Raum der Kirche nicht nur Kinder und Jugendliche betrifft, sondern auch Erwachsene in seelsorglichen Kontexten der katholischen Kirche treffen kann und getroffen hat. Im berichteten Fall geht es um den Vorwurf gegen einen ehemaligen Novizen der Gemeinschaft der Pallottiner, der vor rund 30 Jahren eine Missbrauchstat an einer erwachsenen Frau begangen haben soll. Im selben Zusammenhang gibt es Vorwürfe gegen ein weiteres Mitglied der Gemeinschaft im Hinblick auf spirituellen Missbrauch und Verschleierung der damaligen Geschehnisse. Die Rahmendaten des Falles sind hinreichend bekannt. Wir möchten sie an dieser Stelle nicht wiederholen. Vielmehr geht es uns darum, die jetzige öffentliche Gemengelage zu nutzen, um Stellung zu beziehen, was das Thema sexualisierter Gewalt gegenüber Erwachsenen in seelsorglichen Kontexten generell und die Aufarbeitung derselben betrifft. Unsere Stellungnahme richtet sich an alle Kirchenmitglieder und Institutionen, die in der Lage wären, substanzielle Beiträge zur Aufarbeitung, Klärung und Deeskalation zu leisten. Manche möchten wir namentlich adressieren:

Als Beirat bei der Deutschen Bischofskonferenz zu Fragen sexualisierter Gewalt rufen wir insbesondere die Pastoralpsycholog*innen und Pastoraltheolog*innen der katholischen Fakultäten in Deutschland sowie zertifizierte Exerzitienbegleiter*innen und weitere Expert*innen dazu auf, deutlich Stellung zu beziehen zur Bewertung von sexualisierten Grenzüberschreitungen in seelsorglichen Kontexten generell. Wir wissen, dass dies schon geschieht [vgl. die auswertenden Beiträge in: B. Haslbeck/R. Heyder/U. Leimgruber/D. Sandherr-Klemp (Hg.), Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020]. Die Ergebnisse dieser Forschung müssten dringend intensiviert, deutlicher platziert und breiter diskutiert werden. Jetzt wäre hierzu eine gute Gelegenheit.

Dringend scheint es geboten, dass die deutschen Bischöfe sich auf der Grundlage dieser Forschung und fachlichen Expertise vertieft mit dem Thema erwachsener Betroffener auseinandersetzen, um zu einheitlichen Standards und einer gemeinsamen Sichtweise im Umgang mit diesen Fällen in allen Bistümern zu kommen. Grundlegend gehört hierzu die klare Unterscheidung zwischen Beziehungen/Zölibatsverstössen auf der einen Seite und Missbrauch seelsorglicher Abhängigkeitsverhältnisse auf der anderen Seite. Im ersten Fall geht es um klar definierte Verhältnisse zwischen zwei Menschen auf Augenhöhe, in Gegenseitigkeit und Liebe; im anderen Fall geht es um die Ausnutzung von Machtgefälle, psychischer Bedürftigkeit und spiritueller Suche nach Orientierung im Rahmen von Seelsorgsverhältnissen. Beides kann und muss unterschieden werden.

Von der katholischen Kirche in Deutschland erwarten wir Konsequenzen für das Berufsethos aller pastoralen Berufe (Kleriker wie Laien) im Sinne einer Null-Toleranz-Linie für sexualisierte Nähe in allen Seelsorge-Kontexten: nicht nur im Hinblick auf Kinder und Jugendliche, sondern auch im Hinblick auf Erwachsene in seelsorglichen Betreuungsverhältnissen. Wer auch immer als Seelsorger*in eine Liebesbeziehung eingehen möchte, kann z. B. nicht zeitgleich geistlicher Begleiter oder geistliche Begleiterin der betreffenden Person sein. Im Sinne von Prävention und des Respektes vor der körperlichen und seelischen Unversehrtheit sowie der sexuellen Selbstbestimmung jedes Menschen halten wir diese Rollenklarheit für selbstverständlich und unabdingbar. Wir fordern die Berufsverbände aller pastoralen Berufe auf, sich entsprechend zu positionieren und ihre Leitlinien zu präzisieren.

Zahlreiche kirchliche Voruntersuchungen von Fällen sexualisierter Gewalt erwachsenen Schutzbefohlenen gegenüber münden nicht in ein kirchliches Strafverfahren, da die angezeigten Handlungen nicht hinreichend vom kirchlichen Strafrecht erfasst sind. Aus diesem Sachverhalt kann keineswegs die Haltlosigkeit der betreffenden Anzeigen abgeleitet werden, sondern zunächst lediglich die kirchenstrafrechtliche Folgenlosigkeit. Zudem muss leider vermutet werden, dass bei den zuständigen römischen Behörden nach wie vor Missbrauchshandlungen, die gegen erwachsene Personen gerichtet waren, fehlgedeutet werden als Zölibatsverstösse. Aber hier geht es in erster Linie nicht um die Verletzung der Zölibatspflicht, sondern um Übergriff auf die Integrität und Würde erwachsener Schutzbefohlener. Wir fordern die deutschen Bischöfe auf, sich angesichts der beschriebenen Lage für eine Änderung des kirchlichen Strafrechtes einzusetzen, damit diese Unterscheidung in Zukunft angemessen berücksichtigt wird.

Aus der reinen Tatsache, dass in den meisten Verdachtsfällen für sexualisierte Gewalt erwachsenen Schutzbefohlenen gegenüber die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen eingestellt wurden, kann keineswegs eine Unschuldsvermutung für die Beschuldigten abgeleitet werden. Die Einstellung der Ermittlungen dokumentiert zunächst lediglich, dass strafrechtlich keine Handhabe gegen die beschuldigte Person gegeben ist oder das deutsche Strafrecht die vorliegenden Tatbestände bisher nicht als Straftaten bewertet. Daher erwarten wir eine Initiative der deutschen Bischöfe und der verantwortlichen politischen Akteure, dass die Massgabe von § 174c StGB – Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses – unmissverständlich auch auf die Ausnutzung von Seelsorgsverhältnissen Anwendung findet und dies unabhängig vom Alter der betreffenden Personen. Die jetzige Lage befördert Rechtsunsicherheiten für alle Beteiligten und wird den Betroffenen nicht gerecht. Dies kann nicht im Sinne des Gesetzgebers und im Sinne des kirchlichen Aufklärungswillens sein.

Eine öffentliche Stellungnahme der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA), die eindeutig darlegt, dass auch erwachsene Schutzbefohlene antragsberechtigt sind und Anspruch haben auf angemessene Anerkennung des erlittenen Leids, könnte ebenfalls zur Entwicklung eines umfassenderen Unrechtsempfindens im Hinblick auf sexualisierte Gewalt gegen betroffene Erwachsene und zur Befriedung der Lage in zahlreichen Fällen beitragen. Wir bitten die UKA, dies zu prüfen und sich öffentlich zu positionieren.

Die eingangs erwähnte öffentliche Berichterstattung macht einmal mehr deutlich, wie weit die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Kontext der katholischen Kirche noch entfernt ist von echten Haltungsänderungen. Hier gilt es zunächst, die Glaubwürdigkeit der betroffenen Personen nicht grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Daneben geht es aber auch darum, dass die Beschuldigten sich nicht länger nur auf die rechtliche Position zurückziehen können. Eine einseitig rechtliche Erfassung und Aufarbeitung der Fälle führt nicht zu jenem Gesinnungswandel, der notwendig und der Kirche würdig wäre. Zu allen Zeiten haben Christen «Aufarbeitung» von verursachtem und erlittenem Leid geleistet. Dabei ging es im Sinne der Botschaft Jesu von Nazareth um folgende vier Punkte: Schuld benennen, erlittenes Leid anerkennen, um Verzeihung bitten, Verantwortung übernehmen. Oder anders ausgedrückt: Bekenntnis, Empathie, Reue, Wiedergutmachung. Es ist höchste Zeit, dass den rechtlichen Aspekten kirchlicher Aufarbeitung diese hinzugefügt werden. Schon jetzt kann der Flurschaden kaum grösser werden.

Der Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz

Deutsche Bischofskonferenz
14. Mai 2021 | 09:40